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Kultur: Opfer bleibt Opfer

Tagung „Opfer und Verlierer“ im Einstein Forum

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Besser hätte Dr. Martin Schaad vom Einstein Forum seine These kaum bebildern können. Zum Start der Tagung „Opfer und Verlierer“ zeigte er gestern einen belgischen Werbeclip. Darin kämpft ein junger Vater, der Boris Becker recht ähnlich sieht, mit dem Gezeter seines Sohnes. Das Geschrei um Bonbons steigert sich ins Unerträgliche. Dann ein Schnitt und der Slogan: „Use condoms!“. Ist dieser Vater nun ein Opfer? Nein, meint Schaad. „Aber die Menschen müssen immer mit dem leben, was sie verursacht haben.“

Dies ist für Schaad der Knackpunkt bei der Frage nach dem Opfer. „You play – you pay“ hat er seine Ausführungen betitelt und erklärt seine These anhand eines Spielers. Der trage beim Verlieren per se eine Mitverantwortung, denn er ist durch seinen Geld-Einsatz überhaupt erst in die Situation gekommen, verlieren zu können. Schwieriger wird es da schon bei den Opfern von Kriminalität. Schaad nennt das Beispiel einer Witwe, der die Hinterbliebenenvorsorge versagt wurde. Weil ihr Ehemann den Mann, von dem er erstochen wurde, vorher konfrontiert hatte. Er war ein Risiko eingegangen. Das Fazit aus Schaads Ausführungen: Ein Opfer bleibt immer das Opfer eines Täters, auch wenn es zuvor ein Risiko eingegangen ist. Allerdings können durch diese Risikobereitschaft Ansprüche – etwa vom Staat oder Versicherung – verloren gehen.

Unterdessen hatten sich im Einstein Forum mehrere Bodyguards postiert. Der stellvertretende Botschafter Israels und Jan-Philipp Reemtsma wurden geschützt. Für sie ist jeder Auftritt in der Öffentlichkeit ein Risiko; für ihre Bewacher ist der Job ebenso riskant. Reemtsma, der selbst vor einigen Jahren Opfer einer spektakulären Entführung wurde, geht es allerdings um einen anderen Aspekt der Opferdebatte. „Opferkulturen“ ist das Thema, das er zusammen mit dem Autoren Bernhard Schlink betrachtet.

Reemtsma konstatiert eine kulturelle Umdeutung des Opferbegriffs im 20. Jahrhundert, der Opferbegriff habe sich nach dem Holocaust stark positiv aufgeladen. Das Aufkommen von Opferbiografien habe sogar so etwas wie einen „Stolz auf das Stigma“ erkennen lassen. Reemtsma selbst hat ein Buch über seine Entführung geschrieben. In der Öffentlichkeit sei es gelesen worden wie eine heilige Schrift. Mittlerweile warnt der Sozialwissenschaftler vor den negativen Seiten der Opferrolle: „Es ist problematisch, wenn Menschen länger in diese Rolle gebracht werden, als ihnen gut tut.“ Denn Opfer könnten auch unangenehme Menschen sein, die ihrem Gegenüber bisweilen Mitschuld an ihrem Leid geben.

Der Historiker Heinrich August Winkler brachte dann noch einige erhellende Überlegungen zum Opferdiskurs ein. Etwa die immer wieder geäußerte These, dass die Deutschen Opfer von Hitler wurden. Mitnichten, so Winkler, denn schließlich wählten die Deutschen die NSDAP und die Rechtskonservativen 1933 in freien Wahlen. Winkler erinnerte daran, dass erst kürzlich Papst Benedikt XVI. in Auschwitz davon sprach, dass die Deutschen in der NS-Zeit Opfer eines Verbrecher-Regimes geworden seien. Dem hält Winkler entgegen, dass ohne Selbststilisierung zum Opfer Hitler keine Wahlen gewonnen hätte.

Heute 13 bis 19.30 Uhr, Neuer Markt 7.

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