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Kultur: „Orpheus Britannicus“

Uraufführung im Nikolaisaal: Schauspiel mit Musik

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Dass auf Plakaten ein „Schauspiel mit Musik“ angekündigt wird, wie derzeit in Potsdam, und sogar Chor und Orchester mit von der Partie sind, ist heutzutage schon eine Rarität. Zwar gehörten Musiker noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts genau so selbstverständlich zur abendländischen Theaterpraxis wie Kulissen und Kostüme. Doch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verzichteten immer mehr Theater auf live gespielte Bühnenmusik.

„Orpheus Britannicus“ heißt das Bühnenstück, bei dem neben vier Schauspielern auch die vocal-concertisten Berlin, Chor und Orchester der Universität Potsdam und der Dirigent Kristian Commichau auf der Bühne sein werden. Der erste (von seinen Zeitgenossen so betitelte) „Orpheus britannicus“ der Musikgeschichte war der berühmte Barockkomponist Henry Purcell. Dieser tritt jedoch nur „als Vision, als Gespenst einer vergangenen Zeit“ auf, denn „die Handlung spielt nicht im Barock, sondern im Zweiten Weltkrieg“, ist von Lars Wernecke, Autor und Regisseur des Dramas, zu erfahren.

Im Mittelpunkt steht ein anderer britischer Komponist: Benjamin Britten, der so genannte „moderne Orpheus britannicus“. Britten bewunderte Purcells Werke und betrachtete ihn als „die letzte Erscheinung der englischen Musik von internationaler Bedeutung“. In Werneckes Schauspiel spielt der barocke „Orpheus Britannicus“ Purcell eine ambivalente Rolle: Das Purcell-Gespenst schenkt dem in seine Kindheit zurück versetzten Britten die Vision, einmal ein großer Komponist zu werden und zaubert wunderschöne (nämlich von Purcell komponierte) Musik herbei. In diesem Augenblick treten die vorher nur schemenhaft auf der Bühne zu sehenden Sänger und Orchestermusiker optisch und vor allem akustisch in Erscheinung.

Das barock gekleidete Phantom verlangt für die viel versprechende Prophezeiung jedoch einen Preis. Hier flicht der Autor tatsächliche Geschehnisse aus dem Leben Brittens ein, der als Junge von seinem Vater (andere Quellen nennen den Lehrer) missbraucht wurde. Dieses Verweben von Fiktion und Realität bestimmt das gesamte Stück, in dem Wernecke drei Hauptthemen angelegt hat: „Es geht um den Verlust der Unschuld eines Kindes, um Pazifismus und um Visionen.“

Auch Ausschnitte aus dem War-Requiem von Benjamin Britten sind Teil der Inszenierung. Dieses berühmte Werk ist ein großartiges musikalisches Plädoyer für Gewaltlosigkeit und wird mit seinen dumpfen, ekstatischen, aber auch bezaubernd-erlösenden Klängen dem Drama zweifelsohne einen besonderen Akzent verleihen. Die Uraufführung des Requiems (1962) zur Eröffnung der neuen Kathedrale in Coventry, die neben der Kriegsruine des Vorgängerbaus errichtet worden war, rührte das Publikum zu Tränen. Von der kurze Zeit später veröffentlichten Aufnahme des War-Requiems wurden innerhalb der ersten fünf Monate mehr als 200 000 Exemplare verkauft – für eine Komposition des 20. Jahrhunderts ein außergewöhnlicher, vielleicht sogar einmaliger Rekord.

„Schauspiel und Musik finden gleichwertig statt“, betont Wernecke. Als er das Drama schrieb, hatte er viele der Musikstücke schon im Ohr und konnte die Szenen daraufhin anlegen. Umgekehrt wurden einige Britten- und Purcell-Kompositionen bearbeitet, um sie der Dramaturgie genau anzupassen. Auf diese Weise wird die Figur des Benjamin Britten nicht nur durch „informative Lebensfetzen“ (Wernecke) und einen entsprechenden historischen Kontext lebendig, sondern auch durch die Musik des großen Vorbildes Henry Purcell und natürlich durch die eigenen Kompositionen Benjamin Brittens, des „modernen Orpheus Britannicus“. „Orpheus Britannicus“ heute (Uraufführung) und morgen jeweils um 19 Uhr im Nikolaisaal.

Imke Griebsch

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