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Kultur: Paganini des Punk

Der französische Musiker Yann Tiersen und Band gaben im Nikolaisaal ein unerwartetes Konzert

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Wer sich Yann Tiersen als Rotwein trinkenden Romantiker vorgestellt hat, der melancholisch-verträumte Klänge in französischer Tradition mit Musette und Akkordeon komponiert, muss nach diesem Konzert am Mittwochabend gründlich umdenken. Tiersens Musik zu den Filmen „Die zauberhafte Welt der Amélie“ und „Good Bye, Lenin!“ hatte die ganze Welt begeistert. Für seine minimalistischen, zart tönenden Klänge im Stil von Eric Satie oder Michael Nyman wurde der Bretone vielfach gepriesen.

Möglich, dass viele Zuhörer mit solchen Erwartungshaltungen in den seit langem ausverkauften Nikolaisaal gekommen waren. Nur selten gab es ein so bunt gemischtes Publikum wie bei diesem Konzert – von lässig gekleideten Schülern und Studenten bis hin zu gesetzten graumelierten Herrschaften.

Nebelschwaden wabern im blauen Scheinwerferlicht über die Bühne, mal glüht die kleine Rauchmaschine vulkanisch rot, weiße Neonröhren blinken hektisch, manchmal tauchen gleißende Strahler den Zuschauerraum in hellen Schein. Schemenhaft sieht man einige Gestalten an Gitarre, Bass, Schlagzeug, einer Art Keyboard und in der Mitte steht der Meister in Jeans und mit zerzaustem Haar.

Yann Tiersen beginnt mit dem Akkordeon, ganz traditionell, ganz französisch im Walzerrhythmus, doch das bleibt eine der wenigen Ausnahmen und wirkt wie ein Zitat oder eine Erinnerung. Vom Akkordeon wechselt Yann Tiersen zu diversen Gitarren, zum Klavier, zur Geige, zum Glockenspiel und zu den Minipianos, die wie Spielzeuge auf dem Boden stehen. Auf jedem Instrument spielt er mit der Hingabe eines Kindes, das in sein Spiel versunken ist. Dazu trinkt er gelegentlich Bier aus der Flasche. Manchmal singt er auf Französisch oder Englisch, aber leider nur sehr schwer verständlich. Doch Worte zählen wenig und Posen nichts bei dieser Show.

Nach der lapidaren Begrüßung: „Guten Abend. Wir sind fünf – Stéphane, Christine, Ludovic, Marc, Yann“, folgt auf den Applaus nach jedem Stück ein knappes, fast schon linkisches „Dankeschön“. Diese Show lebt von der Musik und die ist weder eingängig noch schmeichelhaft, sondern harsch, anstrengend und stellenweise ohrenbetäubend laut. Der Nikolaisaal verwandelt sich in eine Punk-Garage, die Sessel scheinen zu vibrieren, die Beulenwände zittern, und es würde einen nicht erstaunen, wenn selbst die Kuhflecken auf den Polstern plötzlich zu lebendig pochenden Amöben werden.

Die Bassgitarre (Stéphane Bouvier) hämmert, der E-Gitarrist im Feinripp-Unterhemd (Marc Sens) behandelt sein Instrument mit Plektron, Fingernägeln oder auch mal mit dem Geigenbogen, das Schlagzeug (Ludovic Morillon) kracht und schlägt gnadenlos. Sirenenhaft pfeift das „Ondes Martinot“ (Christine Ott) dazwischen, das vermeintliche Keyboard erweist sich als eines der ältesten elektronischen Musikinstrumente. Mal klingt es wie Polizeisirenen, mal wie psychedelische Wallungen, aber im Zeitraffer. Schnell, hart und laut tönt es, manchmal kakophonisch, doch punktgenau kalkuliert.

Kurz und knapp sind die fast dreißig Stücke, die aus verschiedenen Alben von Yann Tiersen stammen und programmgemäß gespielt werden. Titeln wie „Les Enfants“, „A secret place“, „Monochrome“, „Sur le fil“, „La Crise“ chiffrieren Konzepte und Bilder wie in der Musik üblich, aber sie klingen ganz unerhört. Brachialer als bei der „Bohrmaschine“ („La Perceuse“) geht es kaum, das Stück klingt so, als ob 100 Zahnärzte und mindestens ebenso viele Schlagbohrer auf einmal bohren. Auch wenn Yann Tiersen zur Geige greift, entfesselt er einen Hexenkessel der Maschinengeräusche, er hobelt über die Saiten, so dass der Bogen zusehends an Haaren verliert, und spielt wie ein lustvoller Berserker der Klassik, ein Paganini des Punk und wirkt dabei zugleich wie ein „Statist in seiner eigenen Inszenierung“ (Die Welt).

Einigen Zuhörern wurde das zu viel, sie gingen nach dem ersten Schluss, doch die weitaus meisten blieben bis die Zugaben gespielt waren und applaudierten begeistert nach dem zweistündigen Konzert der französischen Experimentalrocker.

Babette Kaiserkern

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