Kultur: „Plötzlich wieder Heimat“
Theatererinnerungen mit der Fernsehaufzeichnung von „Kikeriki“ im Theater in der Zimmerstraße
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Anders als bei früheren Versuchen, den legendären Erfolgen des Hans Otto Theaters auf die Spur zu kommen, musste man letzten Sonntag nicht in den Archiven kramen. Im Gegenteil, dank einer probaten Kooperation zwischen dem Theater, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Deutschen Rundfunk-Archiv war es in der „alten Spielstätte“ Zimmerstraße beinahe wie einst gehabt: Anlässlich der Abspielung einer Fernseh-Aufzeichnung von Rolf Winkelgrunds Inszenierung „Kikeriki“ in Original-Kulisse fand sich die alte Mannschaft fast geschlossen auf jener Bühne wieder, welche „Fenster zur Welt“ und zugleich „Sprungbrett nach Berlin“ gewesen ist. Vergangenheit live oder „Theater im Theater“, wenn man so will, jedenfalls ein Vergnügen für die vielen Gäste eher gehobenen Alters – trotz der dreieinhalb Stunden extra langen Retrospektive, dafür mit einem Buffet im Foyer.
Des irischen Schriftstellers Sean O’Caseys selten gespieltes Stück „Kikeriki“ (1949) ist eine Paraphrase auf den Zusammenstoß traditioneller und moderner Gesellschaftsideen, auf „Fortschritt" schlechthin: Während in einem irischen Dorf ein begüterter Torfbauer und ein kleiner Transportunternehmer gegenein ander feilschen, geht ein unverwundbarer Hahn magisch um. Er wird mit der Anwesenheit von Loreleen in Verbindung gebracht, moderner Stadtmensch aus London. Ihre Anwesenheit macht das Weibsvolk zum Ärger des Dorfpriesters aufmüpfig, unheimliche Dinge geschehen. Am Schluss wird die „Aufrührerin“ fortgejagt, doch alle folgen ihr nach. Torfbauer Marthraun bleibt ganz alleine (so kam es ja in den Achtzigern auch) zurück. Der schwarze, eifernde Pater hatte gesiegt.
Als die Schauspieler am runden Tisch ihre Eindrücke nach fast 29 Jahren schildern sollten, zeigte sich Eckhard Becker „sehr positiv überrascht“ von Qualität und Wirkung der 1976 entstandenen, ein Jahr später aufgezeichneten Produktion, die nur ein Mal im zweiten DDR-Fernsehen lief.
Für Gerd Staiger war „plötzlich wieder Heimat“ da, und Hansjürgen Hürrig sah seine Befürchtungen zerstreut, „das Ding könnte heute durchhängen“. Ganz im Gegenteil, das Auditorium war beim Schauen bass vor Staunen, welche Kraft in ihm noch steckt. Da in der von Daniel Küchenmeister schlecht geführten Runde kaum Gesprächsbedarf bestand, ergriff Ex-Intendant Gero Hammer das Wort. Er verstehe nicht, warum man solche Stücke zur „Fundamentalismus-Debatte“ heute nicht sieht. Theater funktioniere nun mal mit guter Literatur am besten – man darf hinzufügen, mit gediegenem Handwerk und guten Darstellern, wie man sie damals in Rolf Winkelgrund und dem Ensemble fand. Warum viele Stücke zuerst in Potsdam liefen, bevor sie Berlin erreichten, weiß heute kein Mensch. „Kikeriki“ gehörte dazu.
Vorher hatte der Regisseur „Purpurstaub“ desselben Autors gemacht, danach Lorcas „Bluthochzeit“. Den Fugard freilich musste er gegen den Funktionärswillen richtig durchsetzen, klar, in den Texten des Südafrikaners kam staatliche Repression zu deutlich ins Spiel. Aber so sah man das damals wohl nicht. „Wir wollten dem Katholizismus mit ,Kikeriki'' doch keins auswischen“, sagte Winkelgrund leise. Dramaturg Michael Philipps bestätigte, dieses Stück hätte es bei den 16 Aufführungen gar nicht so leicht gehabt – anders als beim „Weißen Anzug“, wo in einer Vorstellung das Transparent „Wir lieben Euch!“ ausgerollt wurde.
Theater lebt für den Tag, und alte Kamellen „liest“ man von heute aus: Dass es so kam, wie es das HOT in der angenehm zeitkritischen (nicht „antistaatlichen“) Inszenierung warnend voraussah, macht diesen Wurf tatsächlich „historisch“. Gero Hammer fand es nicht einmal selbstverständlich, wenn ein Team wie hier „Erinnerungen zulässt und akzeptiert“. Auf die Frage, was denn nun bliebe, antwortete er lakonisch: „Jedenfalls mehr, als die Tagespresse darüber Auskunft gibt“. Gerold Paul
Am 23. April wird die Fernseh-Aufzeichnung „Bluthochzeit“ von Federico García Lorca (Regie Rolf Winkelgrund) von 1976 gezeigt, 11 Uhr.
Gerold Paul
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