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Kultur: Punker im Konzertsaal

Sandow feierte starkes Comeback im Nikolaisaal

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Auch wenn es heute unglaublich klingt: Rammstein, der einzige deutsche Musikexport, der es zu Weltruhm gebracht hat, spielte einst als Vorband von Sandow. Die haben es am Sonntag zumindest in den Nikolaisaal geschafft. Nach sieben Jahren in Trennung, in denen die drei Gründungsmitglieder, der Sänger Kai-Uwe Kohlschmidt, Gitarrist Chris Hinze und Bassist und Cellist Tilman Fürstenau, eigene Wege suchten, steht man wenigstens im Olymp der Hochkultur. Hinter den Herren im Schwarz der Avantgarde, ziehen Streicher und Bläser des Deutschen Filmorchesters und der Internationalen Sinfonie Berlin ein. Verwegene Lichtinstallationen, gestaltet und live getaktet von Choreograf Jo Fabian lassen aus dem Record-Release Konzert ein stimmiges Gesamtkunstwerk entstehen.

Rammstein und Sandow in einem Atemzug zu nennen, klingt vermessen, so, als vergleiche man New York mit Cottbus. Doch: die Pyromanen des Pop standen in Potsdam auf der Gästeliste. Warum? Die Ursprünge beider Bands liegen dicht beieinander. Sie beginnen, wie die vor dem Konzert präsentierten Ausschnitte aus den grandiosen Filmen „Flüstern und Schreien“ (dem 1987 gedrehte DDR-Kinofilm folgte sieben Jahre später ein zweiter Teil) zeigten, in der DDR-Punkszene. Die gab es offensichtlich, und deren Mitglieder trugen die gleichen Irokesenköpfe und tranken genauso viel Bier wie die Brüder im Westen.

Regisseur Dieter Schumann begleitete Sandow und „Feeling B“ zu Konzerten und führte Interviews. Zwei Mitglieder von Feeling B. begannen dann 1994 mit Rammstein.

Den Film dem Konzert voran zu stellen, passt zu Sandows Selbstverständnis. Statt wie Rammstein die Ausstrahlung von Bildern einer stürmischen und manchmal vielleicht sogar peinlichen Jugendphase gerichtlich verbieten zu lassen, ist bei Sandow das Frühwerk mitsamt den gegenüber heute zutage tretenden Widersprüchen Teil der eigenen Geschichte. Allein für diese Haltung gehört Sandow also Applaus. Wir leben in apokalyptischen Zeiten, bekannte Kohlschmidt im Film, für ihn könne es nicht genug Veränderungen geben. Stücke des aktuellen Albums „Kiong“ zeigten, wie Sandow an ihrem Klang gearbeitet haben. Dank dieser Haltung sieht man nicht die Brüche in den Biographien, sondern das Verbindende. Das heißt, das Unangepasste, das, was früher einfach Punk hieß. Früher im Totalitarismus, so ein Filmzitat Kohlschmidts, reichte ein falsches Lächeln, um den Staat gegen sich aufzubringen. Heute, so der Sänger weiter, würde das System einfach jede Provokation in sich aufnehmen. Ist diese Ignoranz nicht viel totalitärer?

Rammstein hat dies auch erkannt, und als Antwort einen gnadenlosen und zynischen Ausverkauf aller Werte betrieben. Sandow blieb sich treu, zerrieb sich vielleicht auch deshalb, und suchte weiter einen Ausdruck. Ein viel mutigerer Weg, den die 400 Zuschauer im NIkolaisaal mit viel Applaus und Standing Ovations feierten. Aber man hört die Wurzel: Der tief klingende, mehrfach deklamierte Ein-Wort-Refrain zu zerrenden Gitarren: „Rausch“, „Bastard“ oder „Nebel“ rufen alle vier Musiker dann laut. Wie Rammstein, denkt der Zuhörer da, klingt das. Doch wer war eher da?

Manche Songs verlaufen poppig, auch wenn Chris Hinze eine seiner acht bis zwölf Gitarren mit wilder Rockerpose bearbeitet. Bei „Happy House“ findet Sandow seine Individualität, der Rockrhythmus passt zur dunkel-wahnhaften Stimmung, die Kohlschmidts Texte gerne verbreiten und auch das Orchester ist mal zu hören.

Wenn die Pinguine weg sind, können die Eisbären Lärm machen, sagt Kohlschmidt zur Verabschiedung des Filmorchesters. Mit diesen Worten beginnt der Zugabeteil. Der Schlips wird gelockert, die Bürde der bürgerlichen Erwartungen wurde getragen und sanft abgelegt. Nun kommen durch die gelungene Show auch die Typen zum Vorschein.

Die letzten Songs klingen viel mehr nach früher. Nach Freiheit, Unbeugsamkeit und Entschlossenheit. Nach Punk. Rammstein? Wer echt ist, mag Sandow.

Matthias Hassenpflug

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