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Kultur: Pure Spiellust kontra Worttüfteleien

Peter Iljitsch Tschaikowskys 1. Klavierkonzert im Gespräch bei „Klassik am Sonntag“

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Trivial oder genial? Egal. Es ist für Pianisten das Virtuosenkonzert schlechthin: Peter Tschaikowskys b-Moll-Klavierkonzert op. 23, ein „Schlachtross“, das zu zäumen und zu zähmen kein Tastenspieler von Rang (oder auch von weniger Format) sich nehmen lässt. Doch ist es tatsächlich das mitreißende Virtuosenvehikel, wie oft im Konzertsaal gehört, an dem sich Klavierlöwen abarbeiten können? Nach Ansicht des Widmungsträgers Nikolai Rubinstein war es „unspielbar“. Die Generationen danach haben jedoch höchst erfolgreich vom Gegenteil gekündet. Nun nahm sich Vladimir Stoupel, begleitet vom Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt unter Leitung von Howard Griffiths, im Rahmen der „Klassik am Sonntag“-Konzertreihe im restlos ausverkauften Nikolaisaal des unverwüstlichen Konzertliteraturhits an.

Dabei handelte es sich im ersten Teil um ein Gesprächskonzert, bei dem der Musikwissenschaftler Clemens Goldberg das Werk bis aufs „Knochengerüst“ sezierte. Als Argumentationshilfen erklangen Konzertausschnitte. Voller Verve stürzten sich die Musiker in die akkordlastige Introduktion, griff der Pianist äußerst kraftvoll in die Tasten, donnerte eine Solopassage herunter Abbruch des Ganzen und Beginn von Goldbergs Solo als Werkanalytiker und Disputierer mit dem Pianisten als schlagfertigem Widerredner. Des Moderators Anliegen: zu ergründen, warum Rubinstein das Werk für total misslungen hielt. Diesem waren die niedergeschriebenen Seelenerlebnisse des Komponisten suspekt und er habe stattdessen ein traditionelles Solokonzert erwartet.

Einem Eiferer nicht unähnlich, suchte Goldberg seine These zu beweisen und zu ergründen, in welchem Motiv sich der Tonsetzer mit seinem Namenszug versteckt habe. Stoupels Gegenargument: „Hat oder wollte er überhaupt? Ist das beschworene Kürzel nicht vielleicht der Beginn eines russischen Volksliedes?“ Sogleich spielte er es auf dem Flügel. „Entdeckte“ Goldberg geheimnisvolle „Merkwürdigkeiten“ im Konzertanfang, sah Stoupel darin vielmehr „einen Pulsschlag, einen Walzer, eine heile Welt“, was Goldberg besserwisserisch wiederum nicht gelten lassen wollte. Wechselreden zwischen Solist und Orchester deutete Goldberg als „eine Art von Filmschnitttechnik“. Die von ihm aufgespürte Dissonanz der Tonfolge des-a (als Synonym für Tschaikowskys Ex-Verlobte Désirée Artôt) gehöre „aufgelöst“. Der Komponist und sein Interpret waren da anderer Meinung.

Der Andantino-Satz sei eine „Flucht in kindliche Unschuld“, so Goldberg, und der dritte Satz erkläre sich aus sich selbst heraus. Wie schön Über den virtuosen Aspekt des Konzertes wurde die ganze Zeit über kein Wort verloren. Dass bei aller Tüftelei und Seziererei dieser kein leerer Wahn blieb, wurde nach der Pause mit der hinreißenden Komplettwiedergabe deutlich.

Stoupel, die Musiker und Griffiths schufen sich die erforderlichen freien Fantasieräume, um ihre Sicht auf die sehnsuchtsvollen, dramatischen, triumphalen und eben auch trivialen Dinge des Lebens darzulegen. Ihr Musizieren glich einem Einssein mit dem Komponisten! Differenziertesten Anschlags, sehnsuchtsvoll sinnierend bis kraftdonnernd, spürte Stoupel den Geheimnissen des Konzerts nach (so deutete er die Kadenz des 1. Satzes als Psychogramm des Komponisten). Dabei wurde er vom detailgenau und durchhörbar aufspielenden Staatsorchester voller Intensität unterstützt. Im Triumphalen glänzt man mit Bravour, um schließlich im Hymnischen zu landen. Die Anspannung des Publikums entlud sich in Jubelschreien. Peter Buske

Peter Buske

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