Kultur: Raserei und Schmalztopf
Musikalische Wahnsinns-Studie im Palmensaal
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Ätherisch und wie abwesend klingt es, wenn Donizettis Lucia di Lammermoor nach ihrem Ehegattenmord in der berühmten Wahnsinnsarie von ihrer geistigen Umnachtung singt. Sich in die Höhe windende Flötentöne deuten die Wahnvorstellungen zusätzlich aus. Ähnlich kultiviert kündet Verdis Lady Macbeth von ihren Halluzinationen. Ungleich brutaler und verstörender werden die Folgen schizophrener Psychose in dem musiktheatralischen Werk „Eight Songs for a Mad King“ des Briten Peter Maxwell Davies (geb. 1934) gleich einer modellhaften klinischen Fallstudie in Klang verwandelt. Diese acht Songs für einen wahnsinnigen König gehen auf Gedichte von Randolph Stow und den titelgebenden Monarchen Georg III. zurück, der ab 1810 unter Zwangsvorstellungen litt.
Gleich geballten Peitschenhieben lassen martialische Klangballungen das total unvorbereitete Publikum in Palmensaal des Neuen Gartens zusammenzucken. Ein geradezu überfallartiger Beginn der von Shi Yeon Sung dirigentisch betreuten und nahtlos ineinander übergehenden Liederfolge, die dem Musikfestspiele-Programms mit englischer Kammermusik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den grandiosen Höhepunkt setzt. Der britische Bariton Kelvin Thomas ist der semikonzertant aufgeführten Wahnsinnsstudie der kongeniale Interpret. Wie er zu Anfang wie irr durch die sitzenden Musiker der Kammerakademie Potsdam wieselt, sich zu „ziehenden“ Saitenklängen von Violine (Peter Rainer) und Violoncello (Jan-Peter Kuschel), zu extremen Tonsprüngen von Flöte (Bettina Lange), Klarinette (Matthias Simm) und Klavier (Tomoko Takahashi) in Tobsuchtsanfälle steigert, mit Schreien, Gurgeln, Röcheln und debilen Lautäußerungen überrascht, weist ihn als einen exzellenten Charaktergestalter aus. Hat er sich zuvor in einer Irrenanstalt sachkundig gemacht?! Auch den musikalischen Teil des Parts mit abrupten Wechseln von Gesang, Deklamation, exorbitanten Intervallsprüngen bewältigt er nicht weniger fulminant, wenn er Erstickungsanfälle, Ermattung, Lichtblicke und Raserei singschauspielt. Die Stimmbänder scheinen die Strapazen mühelos wegzustecken. Wenn King Thomas zur inneren Befreiung die Geige zertrümmert (o weh), ist die Gratwanderung von der Tragödie zur Komik verdammt schmal. Zu Schlägen auf der Landknechtstrommel wird er schließlich aus dem Saal getrieben. Dann tobt der Beifall.
Nach dem ersten Teil hält er sich noch in Grenzen, denn da gibt es Lieder- und Instrumentalkost aus dem Schmalztopf. Wahnsinn ist dabei nicht angesagt, was Ralph Vaughan Williams (1872-1958), Eugene Goossens (1893-1962) und Gerald Finzi (1901-1956) als lyrisch-neoromantische Gefühlsergießungen zu Notenpapier gebracht haben. Melodienselig und gefühlstrunken singt das Cello, legatoleicht tönt die Flöte, vollmundig und ansatzweich die Klarinette, schmachtend bis draufgängerisch die Geige. In unterschiedlichster Zusammenfügung werden sie alle vom wandlungsreichen Klavier begleitet. Auch der hier noch zu laut und undifferenziert tönende Bariton, dessen Stunde erst nach der Pause kommt.
Peter Buske
Peter Buske
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