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Kultur: Raus aus dem Keller

Das 6. Potsdamer Jazzfestival geht auf die Straße und der Purist grummelt „Etikettenschwindel“

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Das 6. Potsdamer Jazzfestival geht auf die Straße und der Purist grummelt „Etikettenschwindel“ Von Matthias Hassenpflug und Dirk Becker Unter den Musen, die am öffentlichen Tropf hängen, ist der Jazz die Gebrechlichste. Im sechsten Jahr nun wirbt das Potsdamer Jazzfestival auf Bühnen überall in der Stadt mit eine Vielzahl von Veranstaltungen für den „schrägen“ Patienten. Zum traditionellen Auftakt am Sonnabend gehen die Macher der Jazzinitiative Potsdam selbstbewusst in die Mitte der Stadt, zum Brandenburger Tor. Das Zeichen soll sagen: Seht, Jazz, Synkopen und Improvisationen können auch außerhalb verrauchter Clubs bestehen. Am Samstag saßen über den Nachmittag verteilt sicher Tausende auf dem Gartengestühl unter den grünen Sonnenschirmen. Das Geviert, auch ohne Torhäuser, wurde zum urbanen Jazzerlebnisraum. Das Landesjugendjazzorchesters Brandenburg LaJJazzO gibt den Auftakt und strahlt mit der Sonne um die Wette. Unter Leitung von Wolf von Nordenskjöld ist ein junges, spielfreudiges Ensemble einiger viel versprechender Solotalente zu hören. Das Fest erlebt den ersten Höhepunkt, als Sängerin Christine Branner die Bühne betritt. Diese zeitweise Degradierung des Orchesters zur dialogfähigen Begleitung durch diese klare, auch zum kräftigen Kellergesang fähigen Stimme der 25-jährige Musikstudentin weist die manchmal etwas ungestüme Spielfreude der Register in ihre Grenzen. Mit Jazzkomplott steht kurze Zeit später die nächste Überraschung unter dem senffarbenen Triumphbogen. Die fünf Musikschüler aus Oranienburg gehören allesamt zum Ensemble des Landesjugendjazzorchesters. Die Instrumentalgruppe um den Saxophonisten Hannes Rössler und Gitarristen Christian Lippert, keine achtzehn, spielt diesen coolen, funky Jazz, den ungezählte Pubertierende in den Ohren haben, wenn sie in ihrer Jugend beschließen, unbedingt Saxophon lernen zu wollen, damit unter dem geöffneten Fenster die Mädchen stehen bleiben. Eine musikalische Reife, ein selbstbewusster Klang der Gruppe, der Staunen macht. Zur Dämmerung hin wird der Jazz mit Takabanda um den österreichischen Trompeter Paul Schwingenschlögl und den deutschen Saxophonisten Jan von Klewitz erwachsen. Jetzt erlebt der Platz Free Jazz Soli, in denen sich der eine zu einem wie unter schmerzen abgerungenen Zwiegespräch mit seinem Horn in sich zurückzieht, und der andere genug Zeit findet zum Bierstand zu gehen. Bewundernswert, wie sich die fünf nach diesen Ego-Ausflügen wieder zusammen finden. Ihre Brillanz offenbart sich besonders, als sie sich mit südamerikanischer Leichtigkeit imstande sehen, den zum Finale auflaufenden Salsatänzern, denen man im Set zuvor den ironischen Titel „Hupfdohlen in Neon“ gewidmet hatte, sogar ihre paradiesvogelhafte Aufdringlichkeit zu nehmen. Im Nikolaisaal hält sich derweil der Jazz im Hintergrund. Das Filmorchester Babelsberg, für jeden musikalischen Schabernack zu haben, trifft auf das Frank Popp Ensemble, das durch seine Abneigung gegen jegliches Kleidungsstück aus Jeansstoff Bekanntheit erlangte. „Hip Teens Don''t Wear Blue Jeans“ schallte es vor wenigen Monaten aus jedem Werbeblock. Der Vorliebe des Briten Frank Popp für den 70er Jahre Disco-Soul konnte nur entfliehen, wer seinen Fernseher ausschaltete. Hier im gut besuchten Nikolaisaal soll es genau das sein: Hipper Soul, R&B und ein bisschen Rock“n“Roll. Funk und Pop dürfen auch nicht fehlen, wenn der Tüftler Frank Popp seine Überraschungstüte öffnet. Gelegentlich hakt sich das Filmorchester ein und es wird dann richtig rasant, wenn alte Filmmelodien wie Autoverfolgungsjagden durch den Saal pfeifen. Zwei Stunden Jubel, Trubel, Heiterkeit und manches Mal hält es das Publikum kaum in den Sitzen. Nur der Jazzpurist grummelt etwas von Etikettenschwindel.

Matthias Hassenpflug, Dirk Becker

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