
© Fabian Vallone
AnnenMayKantereit im Waschhaus Potsdam: Rebellische Weisheit und Whiskykonsum
AnnenMayKantereit beeindrucken mit zwei ausverkauften Konzerten im Waschhaus Potsdam. Herbert Grönemeyer war auch dabei. Aber das schien die Besucher nicht besonders zu interessieren, sie waren vielmehr von Henning Mays Stimme gefesselt.
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Potsdam - Als Henning May am Dienstagabend auf die Bühne trat und mit seiner kehligen Stimme zu singen begann, wussten die meisten Anwesenden bereits, was sie erwartete – bis auf einige wenige: Denen jedoch drang dieses tiefe Erstaunen darüber, dass ein blasser Jüngling eine so verlebte Stimme haben kann, bis ins Mark.
May ist die zentrale Figur der Band AnnenMayKantereit neben Christopher Annen und Severin Kantereit, drei Burschen, die sich in ihrem Gymnasium in Köln-Sulz kennenlernten. Keine vier Jahre später stehen sie, durch Bassist Malte Huck verstärkt, auf der Bühne der Waschhaus-Arena, es ist das zweite Konzert in Folge, beide waren fast umgehend ausverkauft – 1400 Leute passen da hinein.
Hänfling mit Abiturientenaura und lyrischer Tiefe
Der Durchbruch von AnnenMayKantereit ist noch nicht lange her: Als die Band im Dezember in der Pro7-Show „Circus Halligalli“ auftrat, kannte sie hinterher die halbe Nation. Na ja, eigentlich kannte die halbe Nation Sänger May. Mit einer Reibeisenstimme, die unaufgeregt zwischen Tom Waits und Jim Morrison changiert, verpasst May der Band den Stempel, ohne den seine lakonischen Texte wahrscheinlich nur ein kurzes Flackern in der Pop-Historie wären. Dabei sieht der Grünschnabel aus wie eine Jugendkarikatur von Sid Vicious, aber gleichzeitig wie der Träumer, dem alle plötzlich an den Lippen hängen und der diese eruptive Wichtigkeit überhaupt nicht fassen kann. Aber wie soll das auch gehen, dass dieser Hänfling mit der Abiturientenaura und einer Stimme, die man mit rebellischer Weisheit und Whiskykonsum verknüpft, Texte mit unerhört literarischer Tiefe singt, die oft von einem gelebten Leben erzählen: „Jeden Morgen klagt mein Magen und stellt tausend Fragen und der Spiegel spricht mich schuldig“, heißt es etwa im Song „Jeder Morgen“, so als ob Exzess das Kennzeichen dieser Handvoll vergangener Jahre wäre.
Dabei steht Lyriker May auf der Bühne, als könnte und wollte er das alles gar nicht fassen. Die Band spielt dazu mal funky Rhythmen, dann wieder voller Pathos, jeder Song folgt einer beeindruckenden Dramaturgie – selbst die Balladen sind nie peinlich. Der bedeutungsschwangere Duktus funktioniert, und die Band ist sich ihres Mitteilungsbedürfnisses bewusst: „Die, die in ihre Smartphones gucken: Eure Gesichter sind heller! Ich weiß genau, wem ihr zuhört“, belehrt May. Als er nach dem Konzert von zwei Teenies, die ihr Handy umklammert halten, um ein Selfie gebeten wird, lehnt er das brüsk ab, er wolle das einfach nicht. Verweigerung ist schwierig, wenn es steil nach oben geht, aber die Band hat Ideale.
Sven Regener und Herbert Grönemeyer im Publikum
Um diese Ideale kann man sich jedoch berechtigte Sorgen machen: Wie geht es weiter mit einer Band, die eben noch ihre Lyrik auf Straßenkonzerten verbreitet hat und auf einmal von kreischenden Teeniehorden gefeiert wird? Schafft sie wirklich, was so vielen einfach nicht mehr gelingen will: einer ganzen Generation ein Identifikationspotenzial zu bieten? Wenn AnnenMayKantereit im Song „21, 22, 23“ darüber singen, nur nicht Mitte dreißig zu werden, dann spielt die Zeit jedoch gegen sie.
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Als die Band am Montagabend im Waschhaus auf der Bühne stand, waren zwei ihrer offensichtlichen Vorbilder im Publikum, ganz unauffällig zwischen den Gästen: Sven Regener und Herbert Grönemeyer. Klar, sie wurden erkannt. Aber sie waren an diesem Abend vielleicht einfach nicht so wichtig.
Oliver Dietrich
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