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Kultur: Reine Psychologie: „Ehrensache“

Die Bühne in der Reithalle A ist für die Premiere von Lutz Hübners Stück „Ehrensache“ wie ein Brennglas gestaltet. Sitzreihen auf allen vier Seiten, und in der Mitte, ohne Schutz bietende Rückwand ausgeliefert wie unter dem Mikroskop, stehen die fünf Darsteller unter besonderer Beobachtung.

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Die Bühne in der Reithalle A ist für die Premiere von Lutz Hübners Stück „Ehrensache“ wie ein Brennglas gestaltet. Sitzreihen auf allen vier Seiten, und in der Mitte, ohne Schutz bietende Rückwand ausgeliefert wie unter dem Mikroskop, stehen die fünf Darsteller unter besonderer Beobachtung. Im Brennpunkt ein Mord unter Jugendlichen, der unter den Fragen des Polizeipsychologen Kobert (Sten Jacobs) obduziert wird. Am Rande sitzt das Publikum, die „Gesellschaft“, und schaut aus vier Perspektiven auf das Geschehen, das nach der in pulsierendem Stroboskoplicht vollbrachten Tat rekonstruiert wird. Was für die einen die Rückseite ist, ist für die anderen schon das Gegenteil. Soll heißen, es gibt keine einfach Erklärung für das, was als „Hagener Mädchenmord“ von Lutz Hübner dramatisiert wurde. Und doch ist es passiert. Keine Requisite lenkt ab, alles reine Psychologie (Regie: Carsten Kochan).

Was da über die Innenwelten der Jugendlichen ans Licht kommt, ist hässlich. Und weil die vier jungen Darsteller sich der seelischen Not ihrer Rolle ganz ausliefern und für diese intensive Stunde ihre eigene Identität eindrucksvoll hinter sich lassen, springt diese Hässlichkeit der sinnlosen, unverständlichen und doch geschehenen Gewalt auf die Betrachter über.

Der 1964 geborene Lutz Hübner ist nach Goethe und Shakespeare der am meisten aufgeführte Autor dieser Tage. Und seine Themen haben es in sich. Ob Liebe in der Zeit von Aids, die Deformation durch die modernen Medien oder der Berliner Bankenskandal. Hübner kennt die Schmerzpunkte der Gesellschaft. Bei „Ehrensache“ ging er in den Augen eines Gerichtes zu weit: Die Uraufführung 2006 in Hagen wurde per einstweiliger Verfügung verhindert, weil das Stück das „postmortale Persönlichkeitsrecht“ der realen Opfer verletzte. Der Potsdamer HOT-Theaterclub hat den Stoff aus seinem türkischen Ruhrgebietsmillieu gelöst. Die Jugendlichen stammen nun vom Dorf, die Großstadt, in der bei einem harmlos beginnenden gemeinsamen Ausflug ein existentieller Konflikt erwächst, ist Berlin.

Enno Hartmann spielt Alex, der gar nicht leugnet, dreißig Mal auf Elena eingestochen zu haben. Er pumpt in seine Figur bis zum Anschlag jungmännliches Testosteron hinein, das ihn jederzeit zur jähzornigen Explosion bringen kann. Hinter der Fassade des Mackers, der zwischen „Schlampen“ und ehrbaren „Frauen“ unterscheidet, ist keine Gefühlskälte. Eher schon eine Unfähigkeit, zu viel Emotion zu kanalisieren. Gefangen in den vielen falschen Machtvorstellungen, die in diesen unterprivilegierten Kreisen niemand für ihn zurechtrücken kann, trifft er auf Elena (Franziska Tietz). Ihr Pech ist ihr Selbstbewusstsein, das keine Angst hat, Alex reihenweise Kopfnüsse zu verteilen und sich über ihn lustig zu machen. Tietz gibt das vermeintliche Opfer als ein Mädchen, deren demütigendes Waffenarsenal dem von Alex ebenbürtig ist. Solche Frauen sind doch „Schlampen“, höchstens gut für das kurze Vergnügen.

Der Polizeipsychologe befördert langsam eine unsichere Seite zutage, in dem er seine Fragen über die Köpfe des Publikums an Alex richtet. Fast schon will er seine Untersuchung einstellen, da stößt er auf die Verletzlichkeit und Irrationalität eines Kindes. Mag sein, dass Alex Elena geliebt hat, mag sein, dass sie das für einen Moment sogar erwidert hat. Aber weil man sich nicht vor den beiden Freunden, Ulli (Anna Tarkhanova) und dem Faxenmacher Maik (der stark aufspielende Tino Hillebrand), muss das Unglück seinen Lauf nehmen. Ehrensache.

Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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