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Kultur: Reise in den menschlichen Wahnsinn

Musikalische „Psycho“-Lesung im Nikolaisaal

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Es ist ein beeindruckender Auftakt. Bevor der Schauspieler Matthias Brandt am Freitagabend auf der Bühne des Nikolaisaals hinter dem Lesetisch Platz nimmt, stellt er sich an den Flügel und schlägt stakkatohaft den immer gleichen Ton an. Der Pianist Jens Thomas übernimmt die Melodieführung und entwickelt daraus eine bis auf das Grundgerüst reduzierte, beinah zerbrechliche Ballade des Klassikers „Hells Bells“ von AC/DC. Es ist der Beginn einer anderthalbstündigen Reise in den menschlichen Wahnsinn, in die Welt des Motelbesitzers Norman Bates, der nachts in den Kleidern seiner toten Mutter durchs Haus schleicht und mit dem Fleischermesser seine Gäste ersticht.

Vor allem die Mordszene unter der Dusche und den markanten schrillen Streichersound von Bernard Herrmann bringt man heute mit dem Titel „Psycho“ in Verbindung. Dass Alfred Hitchcocks Filmklassiker aus dem Jahre 1960 auf dem gleichnamigen, im Jahr zuvor erschienenen Roman von Robert Bloch basiert, ist kaum noch bekannt. Dabei zeigen die ausgewählten Passagen der Romanvorlage, auf die sich Brandt und Thomas bei ihrer musikalischen Lesung „Psycho“ konzentrieren, viel deutlicher als der Film, wie sehr gespalten die Persönlichkeit des schüchternen Motelbesitzers ist, welche peinigenden Kämpfe sich in seinem Kopf abspielen, während er zwischen seiner Angst vor der herrischen Mutter und seinen eigenen Gewaltfantasien hin- und hergetrieben wird. Matthias Brandt, der den Roman vor drei Jahren bereits als Hörbuch eingelesen hat, versteht es perfekt, in diese gequälte und schreckliche Gedankenwelt des Norman Bates einzutauchen. Untermalt von nur wenigen Gesten wechselt er mit seiner variationsreichen Stimmmodulation ständig zwischen leisen, nervösen, mal weinerlichen, mal flüsternd bedrohlichen Monologen und abrupten, hinausgeschrienen Wutausbrüchen. Mit geschickt gesetzten Pausen hält er die Spannung, und mit dem immer wieder erklingenden krächzenden Keifen der von Bates imaginierten Mutter verstärkt er die schaurige Atmosphäre noch ein ums andere Mal.

Jens Thomas begleitet ihn meist mit ruhigen, collagenartigen, stets genau auf den Text abgestimmten Klavierpassagen. Dabei vertieft er, etwa durch Streichen und Klopfen der Saiten oder den Einsatz seiner mal dunkel brodelnden, mal hohen Falsett-Stimme, noch zusätzlich den Identitätsverlust von Norman Bates und lässt bei dessen Ausbrüchen plötzlich manch ohrenbetäubenden Sturm auf seinen Tasten losbrechen. Dieses improvisierte und dennoch wie aus einem Guss wirkende Zusammenspiel, mit dem die beiden Künstler das Publikum mehr und mehr in das kranke Gehirn von Bates hineinführen, ist einfach grandios. Bisweilen aber wird die düster beklemmende Atmosphäre auch humoristisch gebrochen. Dass Brandt und Thomas ausgerechnet nach der berühmten Mordszene unter der Dusche gemeinsam aus heiseren Kehlen den AC/DC-Song „Touch To Much“ singen, nimmt das Publikum ebenso heiter auf wie ihr zunächst ins Alberne abdriftendes Gemurmel, aus dem sich schließlich die Stimme der toten Mutter schält.

Am Ende dieser ungewöhnlichen wie faszinierenden Lesung, an die sich noch eine Zugabe nebst Autogrammstunde anschließt, haben Matthias Brandt und Jens Thomas eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass man „Psycho“, auch gut 50 Jahre nach der Verfilmung, noch Neues abringen kann und wie viel dramatisches Potenzial in diesem bejahrten Text steckt. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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