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Kultur: Rettungstat

Rüdiger Braun las auf dem Theaterschiff

Stand:

Wenn eine Lesung auf dem Theaterschiff mit nichts als dem Titel „Der Abend, an dem ich Robert Enke das Leben rettete“ angekündigt wird, rechnet mancher vielleicht eher mit einem frech makaberen, humorig tiefschwarz gefärbten Text und mit Lachern hinter vorgehaltener Hand. Umso erfreulicher dann aber die Überraschung über das Ausbleiben vergnüglicher Kurzweil und das Vorherrschen von Nachdenklichkeit bei den knapp 20 Gästen, die sich am Mittwochabend eingefunden haben, um die im Rahmen der Reihe „Theater in der Bar“ stattfindende Premiere-Lesung des langjährigen Ensemble-Mitglieds und freien Autors Rüdiger Braun mitzuerleben.

Während zeitgleich die deutsche Fußball-Nationalelf sich mal wieder medienwirksam mit Angstgegner Italien misst, trägt Braun im Theaterschiff recht lebhaft und doch nüchtern und klar den Bericht eines Ich-Erzählers vor. Der weiß Unmögliches: Ex-Torwart Robert Enke ist nicht tot, hat sich nicht das Leben genommen. Zusammen mit seiner Frau betreibt er erfolgreich ein Sportgeschäft in Thüringen. Nicht zuletzt aufgrund der beherzten Rettungstat des Erzählers, der ein geübter Zeitreisender ist und zwischen Parallelwelten hin- und herspringen kann, um missliebige Dinge zu korrigieren, Details zu ändern und nun einen Menschen zu retten aus der millionenschweren, hochglanzgeschönten Welt des Profifußballs und vor einem heuchlerischen Begräbnisakt am Ende. Als Jogger verkleidet nähert sich der Erzähler deshalb am Abend des 10. November 2009 im niedersächsischen Eilvese wie zufällig einem jungen Mann, der nahe den Bahngleisen aus seinem Geländewagen steigt.

Leicht wird es für den Jogger nicht, Robert Enke zum Spaziergang zu überreden, und bis der ausgesucht höfliche, einsilbige Mann zu offenen Worten findet, bedarf es hartnäckiger Fragen, einer geschickten Rhetorik und auch einer gewissen Naivität, die nicht auf das Bild des Fußballstars zielt, sondern zum Menschen Robert Enke vordringt. Es ist diese Grundsympathie, dieser ehrlich interessierte Ton, der die seitenlangen Dialogpartien durchzieht und die unaufgeregte Vortragsweise Rüdiger Brauns bestimmt. Da sitzen zwei aus der Zeit gefallene Menschen im Gespräch nebeneinander, und der eine erzählt endlich von der verlogenen Außendarstellung des Profisports, von den Sauber- und Strahlemännern der Titelblätter, von den Phrasen der Trainer und Manager; vom Zwang „cool“ zu bleiben, nachdem man aussortiert worden ist. Es geht um Druck und viel Geld, die eingebüßte Unbeschwertheit, um Zorn und Verzweiflung, weil kein Leben außerhalb des Fußballs möglich scheint, man nicht versagen darf und Therapieversuche scheiterten. Als wenig später unweit der Regionalexpress 4427 vorbeirauscht, verspricht Robert Enke tränengelöst, das nächste Bundesligaspiel abzusagen und sich aus dem Profifußball zurückzuziehen.

Es mag ein Zufall sein, dass Rüdiger Brauns Erzählung „Der Abend, an dem ich Robert Enke das Leben rettete“ eine gut 90-minütige Vorlesezeit beansprucht, so lange wie in Fußballspiel. Doch lässt sich dieser zwischen ernster Satire und Melodram pendelnde Text, der eine Spannung zwischen öffentlicher Wahrnehmung und privatem Erleben aufbaut und zudem, gleich kurzen Atempausen, dezent von Bernhardt Frese an der Akustikgitarre unterstützt wird, sicher intensiver verarbeiten, als ein medial aufgebauschtes Fußballergebnis. Und tatsächlich erweist sich diese stille Nachdenklichkeit als die schönste Überraschung des Abends. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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