Kultur: Ritual-Entropie
Muss man wirklich tapfer immer wieder die alten Lieder singen und den toten König hochleben lassen?
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Geschafft. Weihnachten ist abgehakt. Sogar Friedrich II. ist endlich erledigt. Uff Ermattung. Muss man sich Sisyphos tatsächlich als glücklichen Menschen vorstellen, wie Albert Camus vorschlug? „Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“ Aha. Bestechend entwickelt der große Schriftsteller das scheinbar Unausweichliche. Und was heißt das für uns? Tapfer immer wieder die alten Lieder mitsingen, immer wieder Gedenkstunden an unsterbliche Opfer durchstehen, zum x-ten Mal den toten König, den bedeutenden Dichter, das geschichtliche Ereignis hochleben lassen?
Das Universum, Wärme, Energie, Stoffmengen, eben alles was existiert, strebt nach Angleichung an Benachbartes gleicher Art, fließt ineinander zu einem tröstlichen Nichts. Entropie. Auch Rituale laufen leise leer, so sehr wir uns auch abmühen mögen, sie jedes Mal mit Sinn und Würde zu füllen. Treueversprechen, Trägheit, vage Schuldgefühle und, ja, auch Sinnsehnsucht bewirken, dass wir durchhalten und sogar selbst hin und wieder anstiften, was dereinst aus innerstem Impuls entstanden sein mag. Müssen wir diese Absurdität, so wir sie überhaupt so zu nennen wagen, ertragen lernen? Nein. Es befreit ungemein, sich wenigstens einmal einzugestehen, dass ausgehöhlte Kulthandlungen und behördlich gestützte Erinnerungskultur anöden.
Aber im Wettbewerb der Profi-Erinnerer, zu denen auch Museen gehören, geht es zu wie überall in der Immerzu-Welt: Dringlichkeit wird auch um der Selbstlegitimation willen beschworen, ein Wettbewerb ums Auftrumpfen mit zugkräftigen Namen, pompöser Ausstattung etc. folgt. Im Hintergrund lauern bleich Überdruss und Verzweiflung.
Ende November rief Potsdams Oberbürgermeister dazu auf, das Auschwitz-Gedenken und andere Gedenkveranstaltungen zu koordinieren, es sei schade, wenn sie inflationiert würden. Das wird wenig helfen, weder in unserem Städtchen noch auf Erden – siehe oben. Ein Befreiungsschlag wäre schon, wenn Sisyphos, nachdem ihm der Stein zum tausendsten Mal vor die Füße gerollt ist, sich neben ihn setzt, um kurz innezuhalten.
Kürzlich besuchte mich der Leiter des „Zukunftsfestivals“, das ab 2014 regelmäßig in Potsdam stattfinden soll. Beim Stichwort Erinnerungskultur stöhnte ich auf, denn alles, was Zeitgenossen dazu eingefallen ist, haben wir und andere in den vergangenen Jahrzehnten ausprobiert und abgeleistet. Aber weil Fantasie weiter ungehindert aufploppt, schlug ich ihm vor, dass junge Potsdamer sich und ihre Freunde in ganz Europa per Facebook danach fragen könnten, woran aus ihrer Sicht erinnert werden soll, warum und wie. Über welche Ereignisse oder Personen würden sie gern mehr erfahren? Energiezufuhr und Erneuerung durch Jugend! So erleuchtend mir meine flotte Idee im ersten Augenblick erschien, so schwächlich kam sie mir im nächsten vor. Im Zeitalter der Diversität könnten man ebenso eine beliebige Liste zusammengoogeln und dann würfeln ...
Fazit? Feierstundenregularien bleiben ein Stab in instabilen Zeiten. Wie das Rechtssystem sind sie naturgemäß von vorgestern. Erinnerungskulturarbeiter werden also weiterhin tun, was sie von jeher getan haben; die Profis haben sich längst um das Schlachtfeld der Deutungshoheit 2013 formiert. Hin und wieder wird jemandem etwas Geistreiches einfallen, dann leben Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig auf, ein darniederliegendes Ritual wird neu belebt.
Für das Filmmuseum Potsdam gibt es zum Glück ab März ein Jahr Zwangspause, weil Brandschutzbauarbeiten im Marstall das dortige Gedenkkarussell anhalten. Beim nächsten Weihnachtsfest werden wir ganz sicher wieder mittun, nur vor Friedrich II. haben wir einstweilen Ruhe.
Die Autorin ist Direktorin des Potsdamer
Filmmuseums.
Foto: PNN
Bärbel Dalichow
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