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Kultur: Romantiksuche

Die Bachtage Potsdam mit Goldberg-Variationen

Stand:

„Lieber Goldberg, spielen Sie mir doch bitte eine meiner Variationen“, soll Graf Keyserlingk, russischer Gesandter am kursächsischen Hof, seinen Cembalisten Johann Gottlieb Goldberg gebeten haben. Abend für Abend, denn der Graf litt unter Schlaflosigkeit, die ihm sein „Musiktherapeut“, ein Meisterschüler von Johann Sebastian Bach, lindern sollte. Wie die Fama berichtet, soll der Graf die später als Goldberg-Variationen bekanntgewordene Sammlung einer Aria nebst 30 Variationen „vors Clavicimbal mit zwei Manualen“ bei Bach in Auftrag gegeben haben. Zur Michaelismesse 1741 hat sie dieser als den vierten Teil seiner „Clavier-Übung“ herausgebracht.

Doch ganz so anekdotenhübsch ists wohl doch nicht gewesen. Fünf Jahre zuvor hatte Keyserlingk nämlich dafür gesorgt, dass der Thomaskantor den heißersehnten Titel eines kurfürstlich-sächsischen Hofcompositeurs erhielt. Wäre es nicht möglich, dass der solcherart Geehrte sich mit dieser Variationensammlung nur schlichtweg bedanken wollte?! Wie dem auch sei: Die Goldberg-Variationen sind, ob Schlafmittel oder nicht, mehr als ein aus Denken und Sinnlichkeit hervorgegangenes Kompendium. Es ist schon erstaunlich, wie Bach alle kompositorischen Möglichkeiten der Variation bis an die Grenzen ausgeschritten ist. Keine leichte Aufgabe für einen Spieler, der mathematischen Gelehrsamkeit nicht unbedingt nachzugeben und auch der Virtuosität nicht ausnahmslos zu verfallen.

Für seinen Potsdamer Bachtage-Auftritt in der Orangerie von Schloss Glienicke entschied sich der französische Pianist Frédéric Vaysse-Knitter für den goldenen Mittelweg. Er hat ihn allerdings nicht ganz stolperfrei bewältigt. Historischer Aufführungspraxis wich er aus, indem er als Arbeitsinstrument einen Steinway-Flügel benutzte und dessen spieltechnischen Möglichkeiten ungehemmt ausnutzte. Und das, wo doch der Veranstalter immer so großen Wert auf Originalklang und Originalbesetzung legt?! Gefühlvoll, weich tastatiert sang sich die Aria durch den Raum. Viel Pedalgebrauch gesellte sich hinzu, sodass die Töne miteinander verschmolzen und verschwammen – nach bester romantischer Machart. Barocke Klarheit blieb dagegen auf der Strecke.

Der Pianist kannte keine Scheu vorm vollgriffigen Klaviersatz und regen Rubato-Gebrauch. Er veränderte das Tempo und die Rhythmen nach eigenem Gusto. Wohl um das Thema gedanklich stets gegenwärtig zu haben, brummte und summte er es während seines Spiels mit. Dass es vielleicht „denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung“ stören könnte, auf diese Idee kam er leider nicht. Dafür beschäftigte er sich ausgiebig mit klangfarblichen Schattierungen, dynamischen Differenzierungen, Ausdrucksverwandlungen und Stimmungsveränderungen. Und so blätterte er, vom Blatt spielend, leichtfingrig, mitunter auch harten Anschlags, ein Kompendium voller kontrapunktischer Schönheiten, harmonischer Gestaltsumwandlungen und melodischer Erfindungen auf. Manche Variation geriet gar in die Nähe von Mozarts verträumter Innigkeit, von Beethovens Temperamentsausbrüchen oder Schumanns melancholischen Eingebungen. Für Bach-Authentizität bürgte, dass er alle notierten Wiederholungen spielte. Zum Schluss dann der Rückgriff auf den „Urzustand“ der Aria, diesmal als Schlummerlied gespielt. Der Beifall geriet heftig.Peter Buske

Peter Buske

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