
© HL Böhme
Kultur: Sackgasse der Moral
Ödön von Horváths Stück „Jugend ohne Gott“ feierte am Freitag in der Reithalle Premiere
Stand:
Martialisch – so lässt sich die Atmosphäre der Potsdamer Bühnenfassung von Ödön von Horváths 1937 entstandenem Roman „Jugend ohne Gott“ am besten beschreiben. Das betrifft nicht nur die stark reduzierte, in ihrer Ausstrahlung jedoch fast erschlagende Kostüm- und Bühnenausstattung (Wolfgang Menardi), sondern auch die ganze Wirkung des Stückes: Kalt, brutal, seelenlos muss es zugegangen sein, folgt man der Interpretation des Regisseurs Alexander Nerlich. Aber auch Horváths Stück selbst gibt nichts anderes her: „Ja, wir sind verrückt geworden!“, schallt es von der Bühne. Aber von wegen verrückt: völlig wahnsinnig, verloren – gottlos eben. Und diese Feststellung ist das Tragische, handelt es sich doch um ein historisches Dokument.
Natürlich steht die Gewalt im Vordergrund, ist sie doch für den historischen Kontext bezeichnend und findet zunächst auch physisch statt. Die Inszenierung greift etwas vor und rüttelt gleich mit einer Prügelszene wach, die die moralische Erschütterung des Protagonisten, des namenlosen Lehrers (ganz groß: René Schwittay), nicht besser darstellen könnte: Die Schüler, in der HOT-Fassung auf vier reduziert, droschen sich gleich zu Beginn die Schädel ein (Kampfchoreografie: Atef Vogel), und stellten sich dem Schlichter breit grinsend gemeinsam in den Weg.
Man merke sich diese Szene, ist sie doch stellvertretend für den Verlauf des Stückes, in dessen Folge der Lehrer in einer Sackgasse der Moral stranden wird und gegen Wände rennt. Schnell erkennt er, dass er ausgeliefert ist; halb sitzt, halb hängt er auf der Bühne an einem Tisch, im Hintergrund sitzen die Schüler, die statt Namen nur Buchstaben tragen (Florian Schmidtke, Eddie Irle, Arne Gottschling und Friedemann Eckert) und in nervöser Erwartung mit den Fingern trommeln. Er wird es versuchen, er wird sich zur Wehr setzen, seinen moralischen Auftrag zu erfüllen, aber er wird scheitern; es gibt keine Moral – und es gibt auch keinen Gott.
Moral ist hier nicht mehr als ein psychologisches Konstrukt, welches in einer von Sozialdarwinismus geprägten Atmosphäre nicht nur keinen Platz, sondern auch keinen Wert hat. Es geht nach unten, das wollte Horváth so, und man mag sich selbst entscheiden, ob das nun hellseherisch oder lediglich realistisch war. Und gerade der Protagonist setzt diese Abwärtszirkulation beeindruckend in Szene – leidend, verzweifelt, sich aufbäumend bis hin zur Aggressivität. Doch er lehrt nicht mehr, er ist zu weit entfernt von einer Funktion als moralische Instanz, längst nur noch ein Rädchen in einem knochenbrechenden System. Das sieht man auch: Er ist die einzige Person, die sich nicht in das schwarzdominierte Bühnenbild – das als großartige, fast perfide Idee die Szenerie von oben filmt und auf eine Leinwand über der Bühne spiegelt – einfügt, trägt als Einziger unschuldiges Weiß. Und bezeugt den Untergang einer Generation, den Diebstahl der Jugend in einem Paradies der Dummheit, wobei er einen im Weg herumstehenden Fremdkörper bedeutet.
Die Abwesenheit von Gott bedeutet in Horváths Stück zeitgleich die Abwesenheit der Wahrhaftigkeit und nicht etwa die Zementierung des Atheismus. Der Faktor Liebe wird dabei zu einem Abstraktum, welches die erotisch-explodierende Figur Eva (Juliane Götz) in der gleichen Martialität verkörpert, quasi den Gegenpol der Männlichkeitsrituale – sie steht nicht für Zerbrechlichkeit, sondern für Dominanz, wird auch auf der Bühne überhöht, indem sie über den Dingen, über der Bühne thront und dabei zum Religionsersatz wird.
Dieses Dilemma, das dieser Strudel der Verzweiflung darstellt, wirkt in der Inszenierung so gnadenlos, so eindringlich, dass selbst die angereisten Schulklassen in ehrfürchtiger Stille verharrten. Ein bedrückendes Stück, welches durch große kleine Momente intensiviert wird, beispielsweise als die Jungen im Dreck liegen und der Regen einsetzt, ohne reinigend zu wirken, und der Protagonist schrittweise seine Identität verliert, weil er die Moral verrät, ja verraten muss. Und doch ist es nicht Horváths Absicht, ein gallebitteres Szenario des Untergangs zu zeichnen, er gibt Hoffnung mit auf den Weg, läutert seine Figuren, wenn er sie überhaupt am Leben lässt. Doch gerade die Figuren, die den Weg hinaus zeigen müssten, sind die sarkastischsten: Der Pfarrer (Philipp Mauritz) ist einer der gottlosesten Charaktere des Stückes.
Ja, sie ist gelungen: eine herausragende Inszenierung des Hans Otto Theaters, eine Parabel über Schuld in einem unmenschlichen System. Es ist nicht nur der Mangel an Liebe und Wahrheit, der Horváths Stück so bedrückend macht. Es ist die Leere, die Wut nach dem verlorenen Weltkrieg, die eine desillusionierte Generation prompt in den nächsten Krieg treiben ließ, auch wenn diese Eskalation Horváth auf sarkastische Weise erspart blieb: Kaum im Pariser Exil angekommen, starb er 1938 durch einen herabstürzenden Ast.
Oliver Dietrich
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