Kultur: Saftprall und mystisch
Ensemble „Estampie“ beschwört die Welt des Mittelalters
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Ensemble „Estampie“ beschwört die Welt des Mittelalters Stell dir vor, es ist Mittelalter und keiner geht hin. Keine Bange. Das Münchner Ensemble „Estampie“, seit knapp zwei Jahrzehnten darauf spezialisiert, der Stimme des Mittelalters ein sachkundiger und redegewandter Anwalt zu sein, lockt die Interessierten in Scharen ins Foyer des Nikolaisaals. Der Treffpunkt für originelle Offerten präsentiert sich wieder einmal in der gemütlichen Bistro-Variante. Eng bei dicht sitzend, vor sich O-Saft, R-Wein oder M-Wasser, lässt sich so eine zwiespältige Kulturepoche in hautnahem Kontakt mit den Musikern genüsslich besichtigen. Diese Ära in ihrer Gemengelage aus dumpfer Religiosität nebst engstirnigen Scholastiker-Lehren und sinnenfrohem Diesseitstreiben in Gänze zu erforschen, hat sich das sechsköpfige Ensemble „Estampie“ an diesem Abend vorgenommen. Es gelingt vorzüglich. Das Podium gleicht einem reichhaltig bestückten Musikinstrumentenmuseum. An Gestellen hängen diverse Lauten und Drehleiern, ein iranisches Tar mit seinem achtförmig geschwungenen Korpus, eine Fidel ... Moderne Handtrommeln stehen zuhauf, eine keltische Steh-Harfe wird um die Nachbildung von Tannhäusers (?) Handharfe ergänzt. Versteckt steht ein Portativ, bedrohlich hängt eine Riesentrommel vor einer Säule – das Mittelalter zeigt seine Instrumente vor und damit auch sein Gesicht. Mal mystisch und von Ergüssen einer esoterischen Nonne geprägt, dann wieder saftprall in Gestalt von derben Saufliedern und stampfenden Tänzen. Eine besonders beliebte Form von letzteren nannte sich provenzalisch „estampida“, mittelhochdeutsch „stempenie“ – womit der Ensemblenamen hinreichend erklärt sein dürfte. Ein Programmheft für weiterführende Erläuterungen und Anmerkungen zu den Stücken und zum Instrumentarium gab es leider nicht. So blieben auch die Mitwirkenden dem Publikum namenlos Wesen. Doch wie erfolgreich ins Mittelalter abtauchen? Zur Portativbegleitung stimmt eine Sängerin – per Mikro und mit reichlich Hall versehen – den mönchischen Gesang „Cunctipotens genitur deus“ an, der sich durch einen musikminimalistischen Zuschnitt auszeichnet. Ihm folgt der rhythmisch betonte Minnegesang „Floret silva“ aus der Benediktbeurischen Liedersammlung „Carmina burana“ aus dem 13. Jahrhundert. Mit ihrem klaren und sauberen, instrumental und ausdruckslinear geführten Sopran verfügt die Sängerin über ein gar prächtiges Tonwerkzeug, das damaligen Klangvorstellungen – so man den Überlieferungen vertraut – durchaus entsprechen dürfte. Zart getönt singt sie zur Begleitung einer Schlüsselfidel von den Erlebnissen eines nächtlichen Liebeslagers, das Dietmar von Eist (12. Jhd.) überliefert hat. Besinnlich bis flott geht es auch in Gesängen zu, die aus der Feder des kastilischen Königs Alfonso X. el Sabio (1221-1284) stammen, der ein Verehrer der Troubadours war. Unterstützung erfährt die Sopranistin durch feingliedrige Harfenarpeggien, rustikalem Trommelschlag eines südindischen Doppelfellinstruments, lustigen Dudelsackklängen. Letzteres Instrument erfährt keine Mundbeatmung durch die Röhre, sondern durch einen modernen Grillblasebalg, der am Arm des Spielers in Ellenbogenhöhe angeschnallt ist. Wie hier instrumentaliter Altes und Neues miteinander harmonisieren, so finden auch Kontinente zueinander. Die rhythmisch akzentuierten Instrumentalstücke „Sultan Aziz“ und „Mahabadi“ führen in persische Gefilde, während „Non Devemos“ (13. Jhd.) die keltische mit der galicischen Kultur zu verschmelzen trachtet. Ziemlich traurig hört sich das „Lamento di Tristano“ eines Anonymus (14. Jhd.) an. Klanghaschisch, nach dem man süchtig werden könnte. Martialische Urgewalt bricht herein, als der Percussionist an der supergroßen Trommel das archaische Solo „Wessobrunn“ schlegelt, das zur Zeit der Christianisierung Germaniens entstand. Es ist ein rhythmisches Feuerwerk, dessen Druckwellen die Magengegend fühlbar massieren. Ätherisches Handharfenspiel besänftigt, klagende und mitklingende Bordunsaiten des Tar streicheln nicht minder gefühlvoll die Seele ... Das Mittelalter zeigt sich – bis hinein in die Zugaben – durch das artifizielle Musizieren von „Estampie“ ganz von seiner vielgestaltigen Seite.Peter Buske
Peter Buske
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