Von Babette Kaiserkern: Schmeichelhaft und schrill Sinfoniekonzert
mit Anna Vinnitskaya
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Ach, Rachmaninow, letzter großer Musiker, der in Personalunion als Pianist, Dirigent und Komponist auftrat. Er war auch der letzte, der am Primat von Melodie und Tonalität festhielt. Solistische Virtuosität und symphonische Opulenz erschienen ihm kein Widerspruch, sondern eine Notwendigkeit. Das trug ihm von vielen Seiten viel Kritik ein. Doch das Publikum liebt Rachmaninow, vor allem seine Klavierkonzerte und ganz besonders das zweite in c-Moll, wie sich beim Konzert des Brandenburgischen Staatsorchesters mit der russischen Pianistin Anna Vinnitskaya im ausverkauften Nikolaisaal zeigt.
Unter der Leitung von Howard Griffith erklang ein rein russisches, kontrastreiches Programm. Nach dem schmeichelhaften Schwelgen des „letzten Romantikers“ Rachmaninow folgte mit der 10. Symphonie von Dimitri Schostakowitsch ein mindestens genauso überwältigendes symphonisches Schwergewicht. Als Komponisten praktizieren beide noch die traditionelle Formsprache von Konzert und Symphonie und verwenden einen riesigen Orchesterapparat, gelangen dabei aber zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen.
Mit den ersten beherzt angeschlagenen Akkorden öffnet die junge Anna Vinnitskaya das Tor zu Rachmaninows zweitem Klavierkonzert, das ebenso weltberühmt, wie wohl auch geschmäht wurde. Das beständige Fließen süffiger Harmonien, die instrumentalen Fluten des groß besetzten Orchesters mit den effektvoll darauf glitzernden permanenten Klavier-Figurationen entfalten schon im ersten Satz den Kosmos von Rachmaninow, der in Anspielung auf Marcel Prousts Epos als „Suche nach der verlorenen Zeit“ beschrieben wurde. Willig begeben sich die Zuhörer in diese rauschhaften Klangwelten aus süffigen Tonreizen und musikalischer Raffinesse. Mit inniger, an Chopin gemahnender Delikatesse erklingt der zweite Satz im schattigen Licht der sordinierten Streicher, das von vereinzelten Rufen von Flöte und Klarinette erhellt wird und mit einer brillanten Klavierkadenz endet. Nicht nur im virtuosen Finalsatz stellt Anna Vinnitskaya ihr großartiges Können unter Beweis. Erst recht bei der Zugabe, der im positiven Sinne romantischen Bearbeitung eines Praeludiums von J. S. Bach, zeigt sie berückendes Legato-Spiel im feinsten Piano, subtile Anschlagskultur und Ausdrucksvielfalt.
Was von Dimitri Schostakowitschs Musik einmal bleiben wird, ist eine offene Frage. Zweifellos bleibt die 10. Symphonie als großartiges Dokument, sowohl unter musikalischer als auch unter politisch-historischer Perspektive im kulturellen Gedächtnis. Doch dass sie das Ohr des Zuhörers erfreut, lässt sich indessen nur eingeschränkt behaupten. Zu grell, zu schrill, zu laut, wie ein veritables Schlachtengemälde klingen einzelne Passagen. Einem Dante’schen Inferno aus Höllenkrach in höchster Potenz gleicht der zweite Satz, der nach den Worten von Schostakowitschs Biographen Salomon Wolkow die Fratze des Diktators Stalins zeichnet. Das wird präzis und eindrücklich gespielt, aber man gelangt dabei an die akustischen Grenzen des Nikolaisaals. er dritte Satz überzeugt mit subtilen Klangfarben dunkler Holzbläser, warnender Piccolo-Flöte und Hornsignale, bis auch hier wieder die bösen Geister, die man rief, bei einem wüsten Klangausbruch auferstehen. Im schier nicht enden wollenden Finalsatz scheint Schostakowitschs musikalische Fantasie bei der Darstellung einer Atmosphäre von Angst, Grauen und Schauder unerschöpflich zu sein. Wie schon Rachmaninows elegische Schwelgereien wirkt auch das in seiner bisweilen niederschmetternden Klangfülle wie Musik für einen Breitwandfilm – nur dass es diesmal um einen Horrorfilm mit vielen scharfen, sarkastischen Seitenhieben geht. Geduldig folgen die Zuhörer Schostakowitschs symphonischen Extremen, die vom Brandenburgischen Staatsorchester unter der souveränen Leitung von Howard Griffith bis zuletzt klangvoll und aufmerksam gespielt werden.
Babette Kaiserkern
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