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Kultur: Schmerzlich

Jan M. Piskorski stellte „Die Verjagten“ vor

Stand:

Dass Menschen, häufig binnen kürzester Frist und oft nur im Besitz weniger Habseligkeiten, aus ihrer Heimat fliehen mussten oder vertrieben wurden, war ein durchgängiges Phänomen im Europa des 20. Jahrhunderts. Von diesem Standpunkt aus hat der polnische Historiker Jan M. Piskorski sein Buch „Die Verjagten“ (Siedler Verlag 2013, 24,99 Euro) geschrieben, das er am Mittwoch im gut besuchten Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte vorgestellt hat.

Es ist dieser weite Blick, der sich als eine Stärke des Buches erweist. Denn der darin von Piskorski untersuchte und bearbeitete Zeitraum reicht von der Flucht der Serben infolge der vor dem Ersten Weltkrieg stattfindenden Balkankriege über die Deportationen und Flüchtlingsströme im Zuge des Zweiten Weltkriegs bis hin zum Exodus aus Furcht vor den sogenannten „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien. Nicht grundlos leitet also der Balkan den Beginn und auch das Ende des Jahrhunderts der Flucht und Vertreibung ein. Denn laut Piskorski sei dort erstmals zum Ausbruch gekommen, was mit dem Begriff der „Homogenisierung der Gesellschaft“ umschrieben werden kann. Somit benennt Piskorski die von modernen Nationalstaaten seit dem 19. Jahrhundert erhobene Forderung nach ethnischer Gleichartigkeit innerhalb der eigenen Landesgrenzen als Hauptursache für die Vertreibungen und Verbrechen des darauffolgenden Jahrhunderts. Doch nicht nur dieser gesamteuropäische Kontext und die zeitliche Ausdehnung öffnen einen neuen Blick auf das Thema. Auch die beinahe schon erzählerische Art der Wissensvermittlung unterscheidet das Buch, nach Piskorskis eigener Ansicht von anderen Publikationen zu diesem Gegenstand. Piskorski, selbst der Sohn eines Vertriebenen, reiht in seiner Studie nicht nur Fakten und Zahlen aneinander, sondern beschreibt mit viel Empathie immer wieder auch Einzelschicksale und versucht das Massenelend anschaulich in Worte zu fassen. Dafür flicht er beispielsweise zeitgenössische Quellen, Tagebuchaufzeichnungen oder auch Briefe ebenso in seine Darstellung ein wie Zitate aus Romanen diverser, häufig polnischer Autoren. Auch literarische Verarbeitungen dieses Themas seien für ihn eine Form der Erinnerung, so Piskorski. Die Lebensnähe der Beispiele, die Piskorski auf diese Art zusammengetragen hat, macht die Lektüre dieses Geschichtsbuches tatsächlich zu einer sehr eindringlichen. Am meisten, so stellt er rückblickend fest, habe ihn bei der aufwendigen Arbeit an dem Buch überrascht, wie viele Gemeinsamkeiten es über die Jahrzehnte und Orte hinweg zwischen den Flüchtlingen gibt. Sie seien nicht selten sogar auf denselben Wegen gereist und gestorben. Auch ihre Gefühle der Entwurzelung, ihre Ängste unterwegs oder während der Prozedur des Wartens in den Aufnahmestellen sowie ihre Hoffnungen und Enttäuschungen seien überall dieselben gewesen. Wie auch das Misstrauen und die Feindseligkeit, mit denen man ihnen überall begegnete. Deshalb, so Piskorski, wage er auch von einer „europäischen Vertriebenengemeinschaft“ zu sprechen.

Für Jan M. Piskorski ist diese kollektive, völker- und generationenübergreifende Erfahrung der Vertreibung aber auch eine Mahnung. Und so schließt er seine Ausführungen mit einem Gedanken Erich Maria Remarques. Statt ritualisierter Gedenktage sei es wichtiger, daran zu denken, dass die Taten und Untaten von heute die Scham von morgen sein könnten. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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