
© A. Klaer
Kultur: Schnodderig mit viel Herz
Eine 13. Klasse des Helmholtz-Gymnasiums hat das Musical Linie 1 im Nikolaisaal inszeniert
Stand:
„Sechs Uhr vierzehn, Bahnhof Zoo, der Zug rollt ein, die Bremsen schrein“, singt das Mädchen im roten Mantel. Halb vom Rauch verhüllt steht sie auf der Bühne des Nikolaisaals, begleitet von einer fünfköpfigen Band und dem gespannten Publikum. Es ist ein aufregender Beginn in mehrfachem Sinn. Weit über ein Jahr hat der Leistungskurs Musik der 13. Klasse des Helmholtz-Gymnasiums an der Inszenierung des Berliner Musicals Linie 1 gearbeitet. Schon länger sind die Schüler dieses Kurses mit sehr speziellen Begabungen aufgefallen. Doch dass der Abschluss ihrer Schulzeit nun von einer derartig lebendigen, mitreißenden Aufführung gekrönt wird, war nicht selbstverständlich.
Den Berliner Machern von Linie 1, wo das Stück seit 26 Jahren im Grips-Theater in der Urfassung läuft, kann der Besuch nur empfohlen werden. Der Zauber des Beginns kommt gleich im ersten Song zum Ausdruck: „Früh am Morgen, in einer fremden Stadt“. Auf der Suche nach ihrem Lover und vermeintlichen Rockstar, der sie geschwängert und sitzen gelassen hat, landet das Mädchen Nathalie in der Großstadt. Dort wird sie konfrontiert mit den unterschiedlichsten Existenzen und Schicksalen. Was einst als Spiegelbild von Westberlin – „der einzigen Stadt auf der Welt, wo in alle Richtungen Osten ist“ – Furore machte, zeigte sich als mal schrilles, mal tragisches, mal urkomisches Kaleidoskop des Lebens. Spielort ist ein U-Bahn-Zug der Berliner Linie 1, bevölkert von Leuten aus dem gutbürgerlichen Westen bis ins tiefste Kreuzberg hinein, mit Punkern, Dealern, halbseidenen und undurchsichtigen Typen aller Art.
Bei den vielen Ohrwürmern von Linie 1 (Komposition: Birger Heymann, Texte: Volker Ludwig) wäre auch eine Art Revue möglich gewesen, doch glücklicherweise beschränkt sich die Inszenierung von Dinah Pfaus-Schilffahrt darauf nicht. Deutlich ausgespielte Sprechszenen spiegeln Themen und Probleme wider, die wohl kaum einen Jugendlichen kalt lassen. Alle sind auf der Suche, sei es nach Liebe, nach einer Lehrstelle, nach Gerechtigkeit oder nach dem Sinn des Lebens überhaupt. Jeder gibt eine andere Antwort darauf – vom krassen Selbstmord, der die anderen ratlos und traurig zurücklässt, bis zum Hohelied auf das Leben.
Sicher zeigen die fast vierzig Mitwirkenden unter der souveränen Leitung von Musikdirektor Helgert Weber tolle Leistungen vom Solo-Gesang bis hin zum mehrstimmigen Chor mit Einlagen. Mit der gehörigen Portion Naivität und Sentiment singt Lea Holtfreter die verträumte „Wessi-Tussi“ aus der Provinz. Das nicht gerade vom Glück verwöhnte Mädchen Maria (Henrike Simm) leistet ihr Beistand: „Du bist schön, auch wenn du weinst.“ Dem jungen Bambi, selbstloser Helfer in der Not, gibt Robert Niemeyer viel Charakter und Stimme. Nicht vor großen Gefühlen und deftigen Gesten scheut Peter Hütte alias Punker Kleister. Als verruchte Immobilien-Lady mit knallroten High Heels und keifende Ehefrau hat Mia Knop-Jacobsen überzeugende Auftritte.
Dass alle Mitwirkenden so richtig berlinern können und auch Ausdrücke nicht scheuen, die heutzutage verpönt sind, verleiht der Inszenierung Kontur und Stil, sprich Rauheit, Schnoddrigkeit mit viel Herz. Den Knaller in der grandiosen Reihe der Karikaturen liefern die fiesen Wilmersdorfer Witwen, wie im Original als Travestie-Nummer mit Maxim Sobolev, Maik Jacobs, Christian Keller und Olaf Reichel. Allerdings war ausgerechnet hier der Text nicht gerade verständlich.
Einen wundersamen Kontrast dazu bildet die Lichtfigur von Hermann, arm und alt, aber glücklich, mit seinem Lied „Das Leben ist herrlich, mein Kind“, das Christopher Heyder mit rundem Bass anrührend vorträgt. Zusammen mit dem Steptanz von Birthe Neuber ergab das eine ganz märchenhafte, sehr filmische Szene. In weiteren Rollen überzeugen Lisa Schwarzer und Lea Rabe, Josefine Bechert, Nils Brzoska, Franziska Haase, Kim Lingnau und Katharina Brockdorff. Beim Finale entpuppt sich der gesuchte Johnnie als schmieriger Schlagerheini mit offenem Hemd und Samtjacket, grandios gespielt von Leonid Weidemann.
Spaß und Ernst, Karikatur und Wirklichkeitsnähe halten in der Potsdamer Inszenierung des Helmholtz-Gymnasiums auf wundersame Weise die Waage – Linie 1 als bewegendes und nachdenklich stimmendes modernes Märchen in einer in jeder Hinsicht stimmigen, schwungvollen Aufführung. Der Maßstab für das, was Schüler im Bereich von Musiktheater leisten können, ist mit dieser Inszenierung sehr weit hoch geschraubt worden.
Zum letzten Mal: Montag, 5. März, 19 Uhr, Nikolaisaal, Tickets 0331-28 888 28
Babette Kaiserkern
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: