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Kultur: Schönbergs Atonalität und der Sex

Beim Quartett der Kritiker wird „Das Buch der hängenden Gärten“ besprochen, das anschließend erklingt

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„Es geht um Sex“, erklärt die renommierte Musikkritikerin Eleonore Büning gleich zu Beginn in der Pflanzenhalle der Orangerie von Sanssouci. Im Quartett mit den Kollegen aus der Jury des Preises der Deutschen Schallplattenkritik, Wolfgang Schreiber, Wilhelm Sinkovicz und Michael Struck, soll „Das Buch der hängenden Gärten“ von Arnold Schönberg besprochen werden. Gemeinsam mit der überschaubaren Zuschaueranzahl lauscht man fast einem Dutzend verschiedener Sängerinnen und Sänger, die dieses Schlüsselwerk der Musikgeschichte in den letzten 60 Jahren auf Schallplatte oder CD eingespielt haben. Wenn das musikalische Quartett nach einem Goethe’schen Bonmot der „Unterhaltung von vier vernünftigen Leuten“ gleicht, so trifft diese Beschreibung erst recht auf das Quartett der Kritiker zu. Einigkeit besteht darüber, dass Schönberg bei seiner Vertonung von 15 Gedichten Stefan Georges das Feld der freien Tonalität betreten habe. Ob der Begriff „atonal“ jedoch angemessen wäre, findet nicht die Zustimmung aller. Schönberg selber sprach von „pantonalen Kompositionen“ und von „Emanzipation der Dissonanz“.

Die Tonbeispiele dokumentieren höchst unterschiedliche, individuelle Interpretationen dieser bewusst wildwüchsigen Miniaturen aus Text und Ton. Vom lyrischen Sopran über dramatisch-pathetischen Mezzo bis hin zum intellektuellen, scheinbar unbeteiligten Bariton geht die bunte Palette der Tonbeispiele. Auch wenn das lyrische Ich der Texte nach Bünings freimütigen Worten ein „junger, geiler Mann“ ist, überwiegen bis dato die Sängerinnen wie schon bei der Wiener Uraufführung im Jahr 1910. Zwar wird das Lied Nr. 8 einmütig zum Höhepunkt erklärt, doch dazu fallen höchst gegensätzliche Begriffe wie Sublimation versus Konkretheit oder Stilisierung versus Körperlichkeit.

Gelegenheit zum Anwenden dieser rhetorischen Spitzfindigkeiten ergeben sich beim anschließenden Konzert mit Konrad Jarnot, Bariton, der von Hartmut Höll souverän und formidabel am Flügel begleitet wird. Doch bevor es im Raffaelsaal dazu kommt, erklingen ältere Schmuckstücke aus der Schatztruhe des Deutschen Lieds. Mit seinem Liederzyklus „An die ferne Geliebte“ op. 98 gilt Ludwig van Beethoven als Begründer der Tradition des Kunstlieds. Distanziert und auf den Wortausdruck bedacht, trägt Konrad Jarnot, zu dessen Lehrern Dietrich Fischer-Dieskau zählt, die sechs Werke vor. Ähnlich stark vergeistigt erklingen die 15 Lieder aus Robert Schumanns Liederkreis op. 39 nach Gedichten von Joseph von Eichendorff. Bei höchst differenzierter Phrasierung, Dynamik und Artikulation überwiegt das deklamatorische Element. Ikonen des Deutschen Lieds wie die „Mondnacht“ und „Wehmut“ fließen klug gerundet und geläutert vorüber.

Wie schon bei Beethoven und Schumann dominiert in Schönbergs „Hängenden Gärten“ die ambitionierte kompositorische Gestaltung über den Text. Dieser scheint jetzt sogar als bloße Folie für jene künstlerische Revolution zu dienen, die das Ende des romantischen Lieds und den Anfang der modernen Musik markiert. Schönbergs eigenwillige, bis dato unerhörte musikalische Mittel aus dem Fabelbuch der Atonalität kommen der hermetischen Ästhetik der Texte entgegen. Seine zerklüfteten Tonlandschaften sind mehr denn je der möglichen Sinnlichkeit des Gesangs entfernt. Um diese hochartifiziellen Kunstwerke adäquat zu gestalten, bedarf es einer derart hochkultivierten Stimme und der rationalen Formkraft von Konrad Jarnot, der für diese Ausnahmeleistung herzlichen Applaus erhält.

Fragt sich nur, wo der Sex geblieben ist? Was der Wiener Psychologe und Zeitgenosse Sigmund Freud einst behauptete – dass nicht erfüllte Triebwünsche die Grundlage aller Kunst seien –, scheinen Stil und Form der „Hängenden Gärten“ kongenial widerzuspiegeln. Babette Kaiserkern

Babette Kaiserkern

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