Kultur: Schrill, schriller, Nina Hagen
Die einstige Mutter des Punk mit der Leipziger BigBand beim Potsdamer Jazzfestival
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Die einstige Mutter des Punk mit der Leipziger BigBand beim Potsdamer Jazzfestival Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Nur mit Nina Hagen wohl kaum. Die Femme Skandal deutscher Unterhaltungskunst hat, was Geschmack angeht, ihren eigene Dickkopf, einen prächtig geschminkten noch dazu. Einer musikalischen Jugendliebe widmet sie sich nun, ganz mit der bekannten und nicht selten gefürchteten Hagenschen Inbrunst. Jazzsongs, die sie schon als Teenager erfüllten, hat sie sich passend gemacht, dazu den Kraftprotz Leipziger BigBand genommen und das Programm neckisch „Big Band Explosion“ genannt. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass diese ihre Interpretationen am Sonnabend im Nikolaisaal im Rahmen des Potsdamer Jazzfestivals recht eigenwillig gelangen. Das Haus war ausverkauft. An der Abendkasse spielten sich kleine Dramen ab, da mancher noch lange hoffte und dann doch enttäuscht nach Hause gehen musste. Das Publikum erfreulich jung, nicht selten auffällig gekleidet und recht unkonventionell, was den Verhaltenskodex im ehrwürdigen Konzerthaus angeht. Denn wann hat man schon mal in den kuhfleckigen Sitzen jugendliche Frauenzimmer beobachten dürfen, die, während vorn der Jazz ausgelassen tobte, genussvoll ihr Flaschenbier tranken? Mit einem krachenden „All of me / Cherokee“ eröffnete die BigBand Leipzig das Programm. Und dann, unter aufgeregt-erlöstem Applaus, die Dame des Abends: Schrill, schriller, Nina Hagen. In Sachen Trashkultur, so bewies sie mal wieder schlagkräftig, ist sie einfach unschlagbar. Bunt, nicht mehr nur auffällig, sondern aufdringlich ihre Garderobe aus allerlei Kleidungsstücken. Unweigerlich fühlte man sich an Joe Perry, Gitarrist von Aerosmith, erinnert, der auf die Frage, warum sein Bandkollege und Sänger Steven Tyler auf der Bühne immer mit augenschmerzenden Tüchern und Kleidungsvariationen erscheine, die Vermutung äußerte, dass dieser vor dem Auftritt mit verbundenen Augen in den Kleiderschrank greife. Nach ähnlichem Muster muss auch Frau Hagen verfahren. Doch die Extravaganz im Äußeren ist Markenzeichen dieser Frau, die sich um Konventionen nur dann schert, wenn es sie zu brechen gilt. Markenzeichen auch ihre körperliche, bis in die kleinste Faser ihrer schrillen Vielfalt reichende Herangehensweise an die Musik. Zum Grauen jedes verknöcherten Jazzpuristen knurrte und krächzte, kalauerte und grimassierte, schrie und schnurrte sie durch die Lieder, dass einem ganz schummerig wurde. Ihr Respekt vor den Großen besteht in ihrer grenzenlosen Respektlosigkeit. Ob „Let me entertain you“, „I want to be happy, „New York, New York“ oder „Fever“, alle bekamen sie kräftig ihr Fett ab. Dabei blieb Nina Hagen ganz die Göre, eine hyperaktive dazu. Ständig zappelte sie über die Bühne, ließ das schleifengeschmückte Haar fliegen und gab Einblicke in eine Gymnastikkunst, die man wohlwollend auch als Tanz bezeichnen könnte. Dahinter die 17 Leipziger, ein Bollwerk des Bigbandswing, die mit sichtlicher Freude das eigenwillige Treiben ihrer Frontfrau begleiteten. Zwei Zugaben vor begeistertem Publikum musste Nina Hagen geben, darunter eine Version von „Du hast den Farbfilm vergessen“. Dann entflatterte der Paradiesvogel und hatte es wieder einmal allen gezeigt. Sollten die allzu bekannten Jazzsongs in den vergangenen Jahren an irgend einer Note Staub angesetzt haben, dann hat Frau Hagen das gerichtet. Den manchmal schon ausgelaugten Burschen hat sie an diesem Abend in Potsdam kräftig den Marsch geblasen und damit eine Verjüngungskur verpasst, die es in sich hat. Und darüber lässt sich nun wirklich nicht streiten. Dirk Becker
Dirk Becker
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