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Kultur: Schuldfragen

Ferdinand von Schirach las in der Villa Quandt

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Wie seltene Ware werden sie angepriesen, die vier freien Plätze in der ersten Reihe, und die Begehrlichkeit ist groß, denn kein geringerer als Strafverteidiger und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach wird sich gleich da vorn ans Rednerpult stellen und aus seinem zweiten Erzählband „Schuld“ lesen. Und wieder einmal muss sich Literaturbürobetreiber Hendrik Röder für die beengten Verhältnisse in den Räumen der Villa Quandt entschuldigen, aber die Gäste murren nicht.

Eine Vielzahl der Anwesenden scheinen selbst aus dem juristischen oder schriftstellerischen Milieu zu kommen und die Gelegenheit, mit einem besonders erfolgreichen Kollegen zu diskutieren, macht jede Unannehmlichkeit wett. Und Diskussionsbedarf, wenn anfänglich auch verhalten, besteht, als der Autor mit verwirrend angenehmer Lesestimme die Einstiegsgeschichte des Buches liest, in der ein junges Mädchen auf einem Volksfest aus einer Laune heraus von den Mitgliedern einer Blaskapelle missbraucht und im Schlamm unter der Bühne zurückgelassen wird. Aufgrund von kleinen Fehlern und Unachtsamkeiten werden sämtliche Beweise für einen Schuldspruch vernichtet und Schirach und ein weiterer junger Kollege übernehmen die Verteidigung der Angeklagten. Als diese schließlich freigesprochen werden, fühlen sich die beiden jungen Männer wie nach einer Feuertaufe. Sie haben zwar einen Prozess gewonnen, doch die Frage der Schuld ist nicht geklärt. Plötzlich liegen all die angenehmen Studienjahre mit ihren papiernen Fällen hinter ihnen und das wahre Leben zeigt sein Gesicht.

Das Schirach seinen Job trotzdem mit Brilianz ausübt, die Grundsätze des Rechtsstaates lobt und stark differenziert zwischen der rationalen Verteidigung eines Angeklagten und der emotionalen Tat, ruft bei einigen Gästen Unbehagen hervor. Sie sehen vor allem die nicht gesühnte Schuld und die fehlende Gerechtigkeit im Falle dieser Geschichte.

Andererseits wird Schirach Recht gegeben, wenn er so vehement die korrekte Ausübung seines Jobs verteidigt. Gibt es keine klare Beweislage, dann ist es Aufgabe des Srafverteidigers, seinen Mandaten aus der Anklage „herauszuhauen“. Moralische Fragen sind da nicht angebracht, auch wenn sie vielleicht gestellt werden müssten.

Ein schmaler Grad, auf dem sich der Autor und Jurist hier bewegt. Da erleichtert es fast, dass bei gut 80 Prozent seiner Fälle eine Schuld bereits fest steht und es nur noch daran ist, die Strafe für den Angeklagten möglichst klein zu halten. Eine der Zuhörerinnen kann das allerdings nicht beruhigen, und als sich diese zum zweiten Mal mit einer Frage meldet, erklärt Schirach halb im Scherz, er hätte Angst vor ihr und bittet alle weiteren Intressenten um ausgesprochen nette Fragen.

Überhaupt wirkt der Autor erstaunlich gelöst und heiter. Und das trotz zehn Jahre Jesuitenkloster, Jurastudium, etwas 800 Strafverteidigungen und 500 Leichenfotos auf seinem Laptop. Kennt man nur seine Geschichten, in denen er sensibel und weitsichtig die Facetten menschlichen Handels in den Mittelpunkt stellt, dann ist man ein wenig erstaunt über den real agierenden, lockeren Mann dort vorn am Pult, der die abschließend gelesene Geschichte „Der Schlüssel“ als ausgesprochen heiter und beschwingt erklärt. Und einem dann, ganz anders als den meisten anderen Anwesenden, beim Zuhören das Lachen eher im Halse stecken bleiben möchte.

Vielleicht zeigt sich ja hier der spezielle Humor des Juristen. Andrea Schneider

Andrea Schneider

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