zum Hauptinhalt

Kultur: Schule der Unmündigkeit Alexander Kisslers Fernsehkritik

Wenn ein bekennender Spät-Aufklärer über die Phänomenologie der gegenwärtigen Fernsehlandschaft spricht, dann ist klar, was einen erwartet: regulierende Kritik an Erscheinungen, an Normenverletzung und Wucherungen der sogenannten „größten und mächtigsten Gouvernante, die wir noch haben“. Durch Darstellung, Polemik und Appelle soll wieder ins Reine kommen, was da so geheimnisvoll aus dem Ruder lief.

Stand:

Wenn ein bekennender Spät-Aufklärer über die Phänomenologie der gegenwärtigen Fernsehlandschaft spricht, dann ist klar, was einen erwartet: regulierende Kritik an Erscheinungen, an Normenverletzung und Wucherungen der sogenannten „größten und mächtigsten Gouvernante, die wir noch haben“. Durch Darstellung, Polemik und Appelle soll wieder ins Reine kommen, was da so geheimnisvoll aus dem Ruder lief. Am Dienstag referierte der promovierte Kulturjournalist und Sachbuchautor Alexander Kissler in der „arche“ über „Medienmacht und Menschenbild im 21. Jahrhundert“, also über die Frage, ob uns das Fernsehen etwa verblöde.

Kissler legitimiert sich einerseits durch sein neues Buch „Dummgeglotzt“, andererseits mit der tollkühnen Behauptung, was sich in deutschen Wohnzimmern täglich, ja stündlich abspiele, ginge uns alle an. Man dürfe nicht wegschauen, wenn in diesem „Oberflächen-Medium“ Zynismus und „meinungsmäßige Monokultur“ gepredigt werde; wenn die Unterschiede zwischen privaten und den öffentlich-rechtlichen Sendern immer mehr verwischen und der sensationsbegierige Boulevard-Journalismus nicht mal vor den Nachrichtensendungen haltmache. Fernsehen heute sei eine „zurichtende, einrichtende, eine sinn- und ordnungsgebende Großmacht“, sagte er in einer Art, die an den Kabarettisten Richling erinnert: Vielleicht müssen sich neuerdings sogar Medienkritiker besonders gut verkaufen.

Fernsehen heute ziele auf Zurückdrängung des Geistes, preise ein „Leben aus Hormonen und Fleisch“, tendiere zur Präsentierung oder Inszenierung menschlichen Elends, damit man beratend-gouvernantisch-helfend eingreifen kann. Besonders im Nachmittagsfernsehen: Zehnjährige verbringen täglich zwei Stunden vor der Glotze, sehen die Sendungen vom schönheitsbesessenen, „optimierten Leben“: A will Sängerin werden, ist aber mit ihrer Nase nicht zufrieden. Das Fernsehen half, nur fragte niemand mehr, ob sie noch singe. Nach einer derartigen „Zurichtung der Körper“ seien dann alle glücklich. Kissler fand weitere verblödungsorientierte Elemente: die absichtliche Erzeugung einer als echt verkauften Scheinwelt, das senderübergreifende Nothelfer-Syndrom zur Selbstlegitimierung, den direkten Zusammenhang zwischen TV-Qualität und Politik-Stil bis ganz nach oben, Niedergang von Geist und Moral auf und aus allen Kanälen, skandalöse Verschwendung öffentlicher Mittel, Verrohung aller journalistischen Prinzipien, Pseudomoral – als ob es nie einen Rundfunkstaatsvertrag gegeben hätte. Die Senderchefs seien sogar stolz auf ihre überseeische Ausbildung, wo ja auch diese Discount-Formate herkommen, sagte der Referent. Man darf hinzufügen, dass ausgerechnet Journalisten und Künstler dieses Todeskarussell federführend mitdrehen. Aber das sin doch alles alte Hüte!

Dieses neue Menschenbild ist längst da, Kissling beschreibt es. Merkwürdigerweise glaubt er aber nicht, dass dies auch gewollt und gemacht sei, trotz zunehmender Unmündigkeit der Hingucker. Er hält das Fernsehen für eine sich irgendwie selbsttragende und -reproduzierende Macht, und empfahl dann den üblichen Aufklärerkram: Die Obristen sollten sich bessern, die Ohnmächtigen abschalten, noch bevor der nächste Vorspann dahergeeilt kommt. „Mut zum aufgeklärten Widerstand.“ Da werden die Säulen des Fernsehens aber zittern. Gerold Paul

Gerold Paul

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })