Kultur: Schule ist doof
Renate Wullstein las über Schulverweigerung
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Renate Wullstein las über Schulverweigerung Das Kind soll in die Schule, aber es weigert sich. Schon in der Kita mochte es den Morgenkreis nicht, wegen des Zwangs. Nun weint es täglich am Schultor. Was macht man da als Mutter? Wenn zu allem Überfluss auch noch die Wende das Land in Aufruhr versetzt? Die Potsdamer Autorin Renate Wullstein hat ihre leidvollen Erfahrungen mit der staatlichen Pädagogik im alten und im neuen Land aufgeschrieben und will sie bald zu einem Buch zusammenführen. Auf einer sehr intimen Lesung im Künstler- und Gründerzentrum Seestraße in der Berliner Vorstadt las sie am Dienstag zum ersten Mal aus dem Manuskript „Der Autodidakt.“ Wullsteins Text hört sich an wie ein literarisch nicht weiter weichgespültes autobiografisches Protokoll einer Mutter, die sich zwangsläufig über die Eigenart ihres Sohnes mit dem Fundament jeder Gesellschaft, ob Ost oder West, auseinander setzen muss – dem Bildungssystem. Aus der nüchternen chronologischen Beschreibung der zunehmenden Verweigerung ihres Sohns, der eigentlich Noten liebt und ehrgeizig ist, aber Sport und den Fahnenappell jeden Morgen hasst, macht Wullstein eine Chronik, in der sie das politische Zeitgeschehen, die persönlichen Lebensumstände in Potsdam und auch Briefe und andere Dokumente zum Thema einarbeitet. Da will Alexander partout nicht zum Sport, wo die Sechsjährigen eine Schulstunde lang stumpf über die Aschebahn getrieben werden, und der Vater sagt: Gut, dann schreibe ich dir eine Entschuldigung, wir fahren zur Feier des 7. Oktobers nach Berlin, wo man prompt am Brandenburger Tor in eine Demonstration gerät, denn „noch ist die alte Regierung im Amt.“ Wullstein hat ein Thema gefunden, an dem exemplarisch und individuell die Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft deutlich werden. Und was aus ihnen geworden ist. Alexanders Widerwillen nimmt zu, von zwölf Schuljahren wird er vier absolvieren. Die Frage nach der Andersartigkeit ihre Sohnes und die Suche nach einer diese berücksichtigende Reformpädagogik führt, und das macht das Thema so spannend, sowohl in die Potsdamer Schullandschaft, die Wullstein mit ihren Wahlen zum Eltern-Aktiv, Muttiheften und langweiligen Einschulungsfeiern im Logenhaus wieder aufleben lässt, als auch zu theoretischen Überlegungen: „Was soll Schule, was ist Bildung, werden unsere Schulen den Anforderungen zur Zeit gerecht? Ihr Literaturagent, der das Thema an sich sehr aktuell finde, habe ihr geraten – so die Autorin im Gespräch nach der Lesung – mehr zu polarisieren. Ihr gefalle aber die Mischung aus Sachbuch, autobiografischem Bericht und – natürlich bei Wullstein – Potsdamer Lokalgeschichte. Alexander, mit dem die Mutter wöchentlich ins Werner-Alfred-Bad ging, um in der „Wannenabteilung mit den alten Messingarmaturen“ ein Bad zu nehmen, hat sich lieber alles selbst beigebracht. Hier das Schwimmen, zuhause Computersprache – er arbeitet heute als selbständiger Internet-Programmierer. Wullstein, die zu dem Thema Schulverweigerung seit Anfang der 90er Jahre recherchiert, hat mittlerweile in der Seestraße eine „Schule der Autodidakten“ gegründet. Ihre sieben Schülern will sie dahin führen, wo ihre Stärken und Talente liegen. Vielleicht, so eine Zuhörerin in der sehr anregenden Diskussionsrunde, sollte Schule wirklich so funktionieren wie im Südseeparadies Tonga: Dort bringt einfach jeder Erwachsene den Dorf-Kindern das bei, was er am besten kann. Matthias Hassenpflug
Matthias Hassenpflug
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