Kultur: Schwarz-Weiß
Lesung zum Thema Schach im Literaturladen Wist
Stand:
Jean, bekanntermaßen Schach-Matador im Pariser Jardin du Luxembourg, war wirklich gut, eigentlich unschlagbar, bis sich dieser junge Fremde an seinen Tisch setzte. Wortlos und ohne Minenspiel verblüffte dieser alle Umstehenden mit einer Serie völlig unkonventioneller Züge. Ein Genie, raunte das Publikum mit zunehmender Achtung. Auch der siebzigjährige Jean wurde nervös: Warum stellt er seine Dame ohne jeden Nutzen auf diese Position, und warum schlägt sie den angreifenden Bauern nicht?
So beginnt die Novelle „Ein Kampf“ von Patrick Süskind, zu hören am Mittwoch in Carsten Wists Literaturladen, Obergeschoss. Unter dem Titel „Schachmatt“ hatte man diesmal zu einem Themenabend geladen, welcher mit einer Partie Blitzschach für sechs Personen begann und gleich drei Sieger fand. Dann trat der Schachspieler, Germanist und Theologe Frank-Volker Merkel aus Potsdam als Redner auf den Plan. Anhand alter und neuester Bücher machte er ein gut Dutzend Köpfe mit der literarisch-philosophischen Seite dieses königlichen Spiels bekannt: Schach enthülle die menschliche Natur, wie sonst nur die körperliche Liebe, war zu hören, oder Schach sei Krieg und Gemetzel, Theater und Tod. Friedrich Dürrenmatt schildert in einem nachgelassenen Text sogar den Extremfall: Honorige Herren einigten sich, jede ihrer Schachfiguren mit einer lebenden Person zu identifizieren, die im Falle des Schlagens zu ermorden war. Schachmatt bedeutete dann logischerweise den suizidalen Tod des Verlieres.
Mit germanistischem Ordnungssinn wies Frank-Volker Merkel nach, wie wenig Schach nur ein Spiel ist, um wie viel mehr es dafür nach dem Wesen einer Person eingreift. Das Fehlen dieses Spiels in der Bibel sei genauso erstaunlich wie die Vielzahl von Schach-Romanen, Analoges zu Tennis oder Fußball gäbe es nicht. Dann führte er das staunende Publikum in die Intimitäten dieser tödlichen Abläufe ein: Aus Fabio Stassis Buch „Die letzte Partie“ etwa zog er den Schluss, Schach stünde metonomisch „für etwas Gewalttätigeres“, mit „Lushins Verteidigung“ von Vladimir Nabakov bewies er, dass es stets einer Initiation bedürfe. Solche Romane geben sich auffallend oft den Anschein des Selbsterlebten, fand der Referent. Besessenheit beim Spiel, der Wunsch, den Gegner nicht nur zu besiegen, sondern ihn, wie bei Stassi, auch persönlich zu vernichten, Skurrilitäten der Spieler beim Spielen, Schizophrenie, wenn man, wie in Stefan Zweigs „Schachnovelle“, gegen sich selbst gewinnen und verlieren muss. Und eben das (literarisch) reale Verbrechen, von Dürrenmatt geschildert: Bei ihm war die zweithöchste Spielfigur immer mit der nahesten weiblichen Person, der Schwester oder Gattin des Spielers, zu identifizieren.
Aber auch im wahren Leben brachte dieses Schwarz-Weiß-Spiel Verheerung und Tod. Der Referent nannte Namen hochberühmter Schach-Giganten, die in Geistverdunkelung, Irrsinn oder Selbstmord endeten. Die politischen Dimensionen gestern, heute und morgen sind gleichfalls unübersehbar. Schachmatt bedeutet, „Der König ist tot“. Für Frank-Volker Merkel selbst steht Süskinds Novelle für Eigendynamik und Autosuggestion des Publikums im Jardin de Luxembourg, aber auch für das Volk im Dritten Reich, wo schon der Wunsch zum Vater des Gedankens wird. Obwohl Jean letztlich gegen den unbekannten Dilettanten gewann, empfand er die Partie als verloren. Er rührte nie mehr an dem tödlichen Spiel. Gerold Paul
Gerold Paul
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