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Kultur: Segeln unter falscher Flagge

Premierenerfolg für „Orpheus in der Unterwelt“ frei nach Offenbach

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Premierenerfolg für „Orpheus in der Unterwelt“ frei nach Offenbach Der Olymp und Jupiter sind gestrichen, die Palastrevolution findet dort nicht statt. Dafür müpfen in der Unterwelt, die auch nicht mehr das ist, was sie einmal war, drei festangestellte Furien und diverse freie Mitarbeiter der Agentur für Müllentsorgung gegen ihren Geschäftsführer Pluto, der sich auf Erden Aristeus nennt. Der unzufriedenen Ehefrau Eurydike des Violinprofessors Orpheus nähert er sich als raffinierter Verführer. Mit unterweltlichem Herrschergebaren beschreibt er ihr die Hölle als Paradies auf Erden. Wie bei der einstigen Rudi-Charell-Show lässt er „am laufenden Band" Preise wie Banane, Kühlschrank, Heimtrainer, Milka-Schokolade und diverse andere Wohlstandsbegehrlichkeiten vor der Höllenkandidatin vorüberfahren. Doch: „Hier wird nichts verschenkt!" Und dem Publikum nichts geschenkt. So wundern sich manche bei der Premiere im Schlosstheater im Neuen Palais gar sehr, denn einige Geschehnisse und Personen kommen ihm seltsam bekannt vor. Richtig. Hat das nicht entfernt mit Jacques Offenbachs herrlicher Operette „Orpheus in der Unterwelt" zu tun?! Hundert Punkte für den Kandidaten. Die gibt''s allerdings nicht für die aktualisierenden Bemühungen des Hans Otto Theaters und der hauptberuflich als Literatin tätigen Regisseurin Jenny Erpenbeck, die einige Motive Offenbachscher Prägung verwendet, um daraus ein neues Bühnenspektakel zu kreieren, das, in Maßen witzig, jedoch unter falscher Flagge segelt. Nachdem die Librettisten Ludovic Halévy und Hector Crémieux von Peter Hacks selig gründlichst bearbeitet worden waren, hat die Regisseurin letzte Hand an die Antikenparodie angelegt. Deren ehemalige Frivolität ist größtenteils der Klamotte und grellen Karikatur gewichen. Übertreibungen, wohin man sieht. Und hört. Die Kammerakademie Potsdam unter der musikalischen Leitung von Till Hass spielt eine diesbezüglich klein gehaltene Orchesterfassung von Jolyon Brettingham Smith nach der musikalischen Einrichtung von Jens-Uwe Günther, die auf Offenbachsche Anhaltspunkte gründet. Viele Köche also, die sich an der Novität abarbeiten. Die der cuisine musicale erstreichen, erblasen und erschlagen sich dabei durchaus einige Michelinsterne. Neben traditionellem Streichinstrumentarium haben Xylophon, Akkordeon, Gitarre und Saxophon Einzug ins originelle Arrangement gefunden, das den Witz des Originals durchaus ins Heute zu transportieren versteht. Allerdings wird über weite Strecken viel zu laut musiziert, wo aparte Differenzierungen angesagt gewesen wären. Liegt es vielleicht daran, dass deshalb die Protagonisten Orpheus (Raymond Sepe) und Eurydike (Nina von Möllendorff) sich in kakteenbestandener Wüste (Bühne: Malve Lippmann) die Seele aus der Kehle brüllen? Warum sie dort in Gegenwart von Kupplergott Cupido (Robert Crowe, Sopran) ihren Dialog gleichzeitig herausschreien, was kein Mensch versteht, bleibt uneinsichtig. Nach dreifachem Furienbiss folgt sie dem arrogant-schleimigen Höllenboss Pluto (Hans-Jürgen Schöpflin) ohne Zaudern und tiefgekühlt in die Unterwelt: „Schlagen wir uns nicht alle willig auf die Seite des Siegers?!“ Komfort hat es in der Hölle, Abteilung Altkleidersammlung, nicht. Pluto entpuppt sich zunehmend als geiler Fiesling, der seinen Sortiererinnen Alekto (Lucy Scherer), Megära (Nadja Saleh) und Tisiphone (Helena Blöcker) unentwegt an die Wäsche geht. Angestachelt von seiner lesbisch angehauchten Gattin Proserpina (Bärbel Lober) kommt es zu jenem Aufstand in der Hölle, der einst im Olymp geschah und die Wende zum Gang in die Hölle erzwang. Verkehrte Welten. Da endlich kommt Stimmung auf, an die es auf der Oberwelt noch mangelt, wissen einige Regiegags das Zwerchfell gar mächtig zu kitzeln. Wie beispielsweise das Gebaren von John Styx (Matthias Grätzel), der einst Prinz von Arkadien war und sein diesbezügliches Couplet vortrefflich vorträgt. Als einziger ist er in der Lage, bei aller zeitkritischen Regiesicht auf die Story dem Genre der Operette zu geben, was ihr gebührt: Stimmenglanz, Feeling für Gefühl und schönen Klang, Ausstrahlung. Er allein straft die HOT-Behauptung, die Operette sei „musikgewordener Unsinn", der Lüge. Weitere seiner (neugedichteten) Coupletstrophen singen der als Indianerhäuptling auftretende König von Polen (Bernd Gebhardt), ein afrikanischer Stammesfürst/König von Ungarn (Helmut G. Fritzsch) und ein Chinese/König von Preußen (Andreas Lettowsky). Es sind die einzigen teuflischen Abwechslungen, die die Hölle zu bieten hat. Aus dem Reich der Verlorenen, Gestrandeten und bedeutungslos Gewordenen (Wendeerfahrungen!) darf Eurydike an der Seite ihres Gatten wieder auf die Erde zurück. Cupido ist schon da, das gegenseitige Geschrei nimmt seinen Fortgang. Als sie sich nichts mehr zu sagen haben, reglos ins Nichts starren, führen die verbliebenen Darsteller den berühmten Cancan (Choreographie: Marita Erxleben) auf. Da springt der Funke endgültig über und zündet den Beifall auf Vollflamme.Peter Buske

Peter Buske

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