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Kultur: Seltsame Blüten

Punkrock traf auf Truckeridylle: „Goldner Anker“ und „Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen“ im Waschhaus

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Sicherlich kann man Kälte, Schnee und Eis als Ausrede nehmen, aber wer Freitagabend nicht im Waschhaus war, hat definitiv ein Highlight verpasst: Mit „Goldner Anker“ aus Dresden und „Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen“ aus Kiel wurde nicht nur was für die Ohren, sondern auch was fürs Auge geboten. Klarer Fall von selbst schuld also, wer sich so etwas entgehen lässt. Dabei sind „Goldner Anker“ längst keine Unbekannten mehr in Potsdam und dieses Jahr schon das dritte Mal vertreten. Und dass das nicht von ungefähr kommt, zeigten sie auch am Freitag. Eher dem traditionsreichen Punkrock verschrieben, also ohne inflationäre Verwendung von Akkorden, stand die Sängerin und Gitarristin im Zentrum des Konzerts, mit einer facettenreichen Stimme, die sowohl schnörkel- als auch makellos von der Band in Szene gesetzt wurde. Es ist nicht übertrieben, von einer der besten aktuellen Livebands aus dem Punkrock-Sektor zu sprechen; allein der Undertones-Coversong „Teenage Kicks“ kam dem Original so gespenstisch nah, dass man kaum registrierte, dass eben kein Mann am Mikro stand.

Da werden es „Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen“ als Hauptact ordentlich schwer haben, konnte man denken, aber die Nordlichter spielten nicht nur in einer anderen Liga, sondern gleich eine ganz andere Sportart. Waren „Goldner Anker“ eher der traditionellen Punkrock-Schule verpflichtet, huldigten die Kieler einem recht irren, fast avantgardistischen Deutschrock-New-Wave-Mix, bei dem eindeutig die Texte im Vordergrund standen. Da durfte das Schlagzeug auch mal vom Band kommen, genau wie andere Playback-Einsprengsel, die das ganze Konzert zu etwas Unerwartet-Überraschendem werden ließen. Ein seltsames Schauspiel, zumal die Band auch optisch unverwechselbar war: Truckeridylle traf da Sozialarbeitercharme, doch wenn sich die Band auch auf den ersten Blick fast der Lächerlichkeit preisgeben wollte, wurde das Spektakel durch die skurrilen, doppelbödigen, hochintelligenten Texte endgültig konterkariert. Magnetisch, geradezu einlullend wirkte die Musik, fast schon psychopathisch, obwohl man sich fragte, auf welcher Seite die eigentlichen Psychopathen waren. Es wurden munter die Instrumente gewechselt, während der Bassist seiner scheppernden Krücke Töne entlockte, die niemand erwartete. Was da ankam, darf als grandios bezeichnet werden – und Lust auf das neue Album namens „postsexuell“ machen. Was für ein verrückter Zusammenschluss: Kam Dresden grundsolide mitreißend daher, scheint Kiel ganz seltsame Blüten auszutreiben. Leider viel zu selten, dass jemand so hochkarätige, lange nachwirkende Musik auf die Bühne bringt. Kompliment ans Waschhaus, das muss an dieser Stelle einfach mal gesagt werden. Oliver Dietrich

Oliver Dietrich

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