Kultur: Shakespeares Albträume und Katastrophen Das Figurentheater Wilde&Vogel im T-Werk
Wer bei Figurentheater lustig-quietschbunte Maskottchen erwartet, die mit putzigen Gesten die Welt erklären, sollte explizit gewarnt werden: Das Leipziger Figurentheater Wilde&Vogel hat sich nicht der verharmlosenden Darstellung verschrieben, im Gegenteil. Die Figuren, die in den Inszenierungen auf die Bühne gelassen werden, besitzen das Potenzial zu Albträumen, zu einem grauenhaften Griff ins Genick des Zuschauers.
Stand:
Wer bei Figurentheater lustig-quietschbunte Maskottchen erwartet, die mit putzigen Gesten die Welt erklären, sollte explizit gewarnt werden: Das Leipziger Figurentheater Wilde&Vogel hat sich nicht der verharmlosenden Darstellung verschrieben, im Gegenteil. Die Figuren, die in den Inszenierungen auf die Bühne gelassen werden, besitzen das Potenzial zu Albträumen, zu einem grauenhaften Griff ins Genick des Zuschauers.
Längst sind Michael Vogel und Charlotte Wilde, die am Freitag und Samstag mit der Shakespeare-Adaption „Lear“ im T-Werk gastieren, über den Status eines Geheimtipps hinaus und ihre regelmäßigen Vorstellungen in Potsdam fast immer ausverkauft. Michael Vogel lernte sein Handwerk in Prag beim Theater von Spejbl und Hurvínek, Charlotte Wilde ist für die Kompositionen der Begleitmusik verantwortlich. Seit 1997 ist die mehrfach ausgezeichnete Formation in der Welt unterwegs, nicht nur in Europa, sondern auch in Asien und Amerika. Damit gehört das Ensemble zu einem der weltweit führenden Figurentheater. Doch es ist nicht nur das intensive Schauspiel und die detailliert-schreckliche Schönheit der fantasievollen Figuren, die Wilde&Vogel so einzigartig machen. Es ist der Mut zum Ausbruch, das exzessive Spiel von Michael Vogel, das immer von einer gewissen Sorge begleitet wird, ob er sich nicht zu sehr verausgabt. Und natürlich der Einsatz der musikalischen Elemente: Johannes Frisch am Kontrabass und Charlotte Wilde an Gitarre, Violine und den Tasteninstrumenten verleihen dem Horror noch mehr Intensität.
Der Wahnsinn der Inszenierung hat bei Wilde&Vogel Methode. Gerade „Lear“, nach „Exit. Eine Hamletfantasie“ und „Ein Sommernachtstraum“ die dritte Shakespeare-Annäherung, stellt die Verzweiflung in den Mittelpunkt. Im Zentrum des Stückes steht der alte König Lear, der sein Reich unter seinen Töchtern aufteilen will und dabei in seiner Eitelkeit der, die ihn am meisten liebt, den Großteil seines Reiches vermachen will. Dabei verkennt er, dass seine Tochter Cordelia die Schmeicheleien ihrer Schwestern mit ihrer Antwort übertrifft: Sie liebe ihn so, wie eine Tochter ihren Vater zu lieben hat. Er verstößt sie für ihre ehrliche Antwort – und die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Der König verliert in shakespearescher Konsequenz alles, sein Reich, seine Töchter, und erlangt im Angesicht des totalen Verlustes schließlich die Gewissheit über den wahren Charakter der Menschen.
In der Inszenierung von Wilde&Vogel ist diese Katastrophe längst geschehen, in Rückblicken und Erinnerungen wird die Geschichte rekonstruiert. Wie in einem Kammerspiel finden sich in einem sterilen Bühnenbild König Lear (Frank Schneider) und sein zur Wahrheit verpflichteter Narr (Michael Vogel), welcher den bedrohlichen Figuren retrospektiv den Bezug zum Vergangenen verleiht.
Diese Figuren tauchen aus dem Nichts auf, ihre Ausdrucksstärke liegt im Schweigen. Doch es sind keine Hochglanzelemente, die das Figurentheater benutzt: Den Figuren und Requisiten haftet immer auch das Staubige, das Unvollkommene und das Verfallende an. Doch diese Bedrohlichkeit sorgt für die Intensität, der man sich als Zuschauer allzu oft wehrlos ausgeliefert sieht. Oliver Dietrich
„Lear“ mit dem Figurentheater Wilde& Vogel am morgigen Freitag und Samstag jeweils 20 Uhr im T-Werk in der Schiffbauergasse. Der Eintritt kostet 14, ermäßigt 9 Euro
Oliver Dietrich
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: