Kultur: „Sie stahlen wie die Raben“
Georg Hermanns „Spaziergang in Potsdam“ von 1926 wird wieder aufgelegt. In drei Teilen stellen die PNN das Buch auszugsweise vor
Stand:
Der alte Fontane sagt einmal in einer Kritik über ein Theaterstück: Es wäre „wie eine Fahrt nach Potsdam, am Anfang ist nichts recht los, gegen Schluss ist nichts recht los. Aber in der Mitte liegt Wannsee.“
Etwas Besseres kann über die Reise nach Potsdam, ob man nun über die Stadtbahn, Potsdamer Bahn oder Wannseebahn kommt, nicht gesagt werden. Es ist wirklich nicht allzu viel los auf der Fahrt. Nur wenn der Zug am Wannsee vorüberstreicht und so einen sekundenkurzen Blick uns lässt über weite angeblaute Fernen und gekräuselte Wasserflächen, auf denen weiße Segel wie Möwenflügel tanzen, dann schlägt einem schon so ein Duft, eine Ahnung von der Luft Potsdams entgegen. Man fühlt das Weite, Freie, den neuen Blick, und eine für Berlin ungeahnte Üppigkeit der Vegetation und des landschaftlichen Kolorits. Aber kurz hinter dem Grabe von Kleist verdämmert das schon wieder in uns. Birken, Kiefern, Trockenheit, ein Stückchen Moor und sandige Wege, und bald tanzen so die ersten Weberkaten von Nowawes – ein absonderlicher Name! – vorbei. Wird da eigentlich noch in den Häusern gewebt, richtig mit Handstühlen? Ich erinnere mich, in meiner Jugend konnte man fast in jedem Häuschen, wenn man durch’s Fenster hereinblickte, solch einen Stuhl stehen sehen, und manchmal, wenn man Glück halte, sogar einen alten Mann, der sich breitbeinig vor dem Gestell hin und herwiegte und rhythmisch das Schiffchen hin und her warf. Und noch eins: Von Jahr zu Jahr fraß sich eigentlich das Moderne, die „Architektur“ hier durch. Erst war noch alles gleichmäßig, sehr schmucklos, aber doch liebenswürdig: überdachte Häuschen mit wunderhübschen Rokoko- oder Empiretüren und amüsant geteilten, hundertfach wechselnden Einteilungen der Oberlichter über den Türen. Denn an Nowawes haben ja zum Schluss die gleichen Architekten wie an Potsdam gebaut, und von Manger, der das schöne Haus am Kanal 41 baute, der die Köstlichkeit der „Breiten Brücke“ schuf, stammten allein über sechzig dieser Kolonistenhäuser, in denen die fremden Weber untergebracht wurden. Man hatte nicht sehr viel Glück mit ihnen. Die Piemontesen, die Seidenzucht und Weberei lehren sollten, bekamen Heimweh – was ihnen nicht zu verargen war – und gingen einer nach dem andern bei Nacht und Nebel davon. Und die andern, die aus Nowawes, waren berüchtigt, weil sie wie die Raben stahlen. Was sie nebenbei mit den Caputhern gemeinsam haben sollen. Der Volkswitz erzählt, dass der alte Fritz gesagt hätte: Und wenn mir meine Feinde auch mein ganzes Land nehmen, meine Caputher und Nowaweser stehlen es mir in einem Jahr wieder zusammen.
Nebenbei könnte man sich doch mal die Kirche in Nowawes ansehen; denn sie ist von Boumann, dem Holländer, dem das Potsdamer Stadtbild doch sehr zu Dank verpflichtet ist, auch wenn er einem graziösen und genialen Baukünstler wie Knobelsdorff, nüchtern und prunkhaft zugleich erschien. Das Rathaus – anlehnend an das Amsterdamer – auch an Palladio – die Französische Kirche, die Seitenflügel des Stadtschlosses usf., das sind Eindrücke, die man nicht missen möchte. Also von Boumann ist die Kirche in Nowawes. Ich aber habe nur die dumpfe Vorstellung, als ob man im Vorüberfahren etwas durch Bäume aufsteigen sieht. Ich war immer schon so erfüllt von dem Gedanken, nun bald wieder in Potsdam zu sein, dass ich eigentlich nie darauf achtete. Und wenn ich mal schon in Potsdam war, konnte ich mich auch nie trennen, um da hinüberzugehen. Man kann eben nicht alles in diesem Leben sehen.
Aber langsam löst sich Nowawes in allerhand Gärten, Häuschen, Zimmerplätze, Bootswerfte, Eisenbahngelände und Wiesen, und es wird seltsam licht und weit um einen. Wiesen – manchmal große überschwemmte Gebiete auf der einen Seite – denn die Havel hat hier Nebenflüsse; Nuthe und Bäke, glaube ich, heißen sie (Geographie schwach!). Man ahnt die großen Wasserflächen des Flusses, seine Seen weiten nach Tornow und Caputh und nach Babelsberg zu mehr, als dass man sie schon sähe. Richtig, das da weit drüben ist ja: das Schinkel-Schloss in Babelsberg im englischen Burgenstil, und das schrägüber: der Turm der alten Heiligengeistkirche, wie vorgeschoben auf einer Landspitze ins Wasser hinein. Aber was haben sie da wieder auf den Brauhausberg hingebaut! Früher war das so ein hübscher wolliger Waldhügel, und hinter ihm leuchtete manchmal ganz silbrig die Kuppel der Sternwarte. Aber heute haben sie da solch einen ragenden türmegespickten Fachwerkbau und noch ein paar andere Schönheiten heraufgesetzt. Soll wohl so eine Art deutscher Renaissance sein. Passt in die Landschaft und die Umgebung, wie die Faust aufs Auge. Ich weiß nicht, wozu es dient. Ich glaube Kasino oder Militärschule. Frage auch nicht. Habe das Prinzip, Dinge, die mich ärgern, mit stummer Verachtung zu strafen. Gottseidank, dass es wenigstens außerhalb des Stadtbildes ist, wenn auch eben dieses von einer Seite wenigstens beherrschend. Man hätte es doch genau ebensogut auf den Wilhelmsplatz, mitten rein, oder an den Kanal neben „die Regierung“ setzen können. Es ist eigentlich noch ein glücklicher Zufall, dass uns das erspart blieb. Aber den Bahnhof hat man gottlob noch nicht umgebaut. Er ist zwar nicht von Friedrich dem Großen, aber er ist eine entzückende altmodische, anheimelnde Scheußlichkeit. Gewiss mörderlich unpraktisch und technisch ganz unzulänglich; aber man hat sogleich die Illusion 1840: erste Bahn zwischen Berlin und Potsdam. Noch nicht einmal Strousbergzeit! Und wenn man heraustritt, so bleibt das. Es stehen zwar Straßenbahnen da und warten, und Autos kommen angefahren, und doch weht einem, man weiß nicht wie, solche beruhigende altmodische Luft in die Nase. Schon das Aus-dem-Bahnhof-Treten ist in Potsdam immer für mich ein Erlebnis.
An der Seite, unter Linden, träumen Droschken. Man sieht provinzielle oder ländliche Gesichter (jedenfalls andere als in Berlin). Ein Krümperwagen kommt vorgefahren, der frischen, jungen Leuten in Uniformen den beschwerlichen Weg zum Bahnhof erspart hat; und – vor allem! – eine ganz unerwartete Weite umfängt uns. Erstaunlich viel Himmel und viel Licht liegt über dem Ganzen. Man sieht eine Menge Grün auf einmal. Parks, Gärten, Wälder. Sanfte ferne Hügelwellen machen uns glauben, dass die Stadt, selbst mit ihren Türmen und Kuppeln in einer Art von weiter Mulde läge. Aber das scheint nur so. Da drüben die Kuppel mit dem Ecktürmchen, die Schinkels Idee später korrumpierten, das ist der „deutsche Dom“. Die goldene Puppe daneben auf ihrem gestuften Untersatz, ist der Atlas auf dem Rathaus. Der mächtige weiß-gelbe Bau mit der Versammlung von Puppen auf dem Dachrand ist das „Stadtschloss“. Rechter Hand weit drüben – wir müssen uns etwas gedreht haben gegen vorhin – herausragend aus den niedrigen alten Dächern an der Havel, das ist der gutgegliederte wuchtige Turm der Heiliggeistkirche. Und da weiter links drüben mit dem goldenen Ordensstern über sich in der Luft, und dem Adler, der auf der gekreuzten Eisenstange sitzt, wie der Papagei auf der Sprosse, dieser in vier Etagen hochgehende, von hier scheinbar sich drehende Barockturm ... das ist die „Garnisonkirche“.
Man kann sagen, dass dieser Barockturm eigentlich die Kirche selbst ist, denn er sitzt an dem kleinen Bau, wie ein Giraffenhals an dem viel zu kleinen Körper. Da ganz in der Ferne aber, das sind die Bauten auf dem „Ruinenberg“ und dem „Pfingstberg“. Ob man Sanssouci von hier sieht? Ich glaube nicht. Die kleine flache Kuppel ist die Französische Kirche. Der einem Campanile ähnliche Ziegelturm? Das muss die Kirche an der Nauenerstraße, am Bassinplatz sein. Denkmal des Pietismus und einer hier etwas unglückseligen und langweiligen Italienliebe Friedrich Wilhelms IV. Wir wollen lieber nicht die Straßenbahn nehmen. Es sind ja nur ein paar Schritte bis zur Stadt selbst. Hier herauf und über die „Lange Brücke“. Außerdem blüht da Flieder und Rotdorn und man atmet die Luft von der Havel her, sieht Dampfer voll Menschen ankommen und abfahren. Das ist immer erfrischend. Auf den plastischen Schmuck der Brücke brauchen wir gar nicht zu achten. Er ist (wie das Kaiserdenkmal) Siegesalleestil. Die Brücke ist eben vor einiger Zeit umgebaut und verschönt worden. Dagegen ist nichts zu machen. Doch das stört eigentlich gar nicht. Denn sie ist der Zugang zu einem der schönsten Festsäle der Architektur – der bildlich gesprochen – ohne jedes Vestibül grad an der Straße liegt. Sonst in andern Städten muss man immer erst durch Gassen und Gässchen nach dem Mittelpunkt hin streben, bis sich der Marktplatz, der Rathausplatz mit seiner ganzen Szenerie von Prunkbauten und Fassaden – meist ganz unerwartet und so, dass man keinen rechten Standpunkt dafür hat – öffnet. Es ist eben die Stadt, die zur Verteidigung innerhalb eines Mauerngürtels geschaffen und ersonnen war, und die ihre Hauptgebäude möglichst weit von den ersten Angriffsstellen, und zusammengedrängt um seinen Kern haben musste. Aber Potsdam war nie eine eigentliche wehrhafte Stadt, keine Stadtfeste des Mittelalters. Es hatte zwar Palisaden, einen Kranz eingerammter Pfähle nach der Havelseite, aber es hatte mehr einen natürlichen Schutz im Wasser, in seiner Insellage. Und es wurde dann aus einem kleinen Landstädtchen zur Repräsentationsstadt, zur Königsstadt umgeschaffen. War also von Anfang an in der Gesinnung als eine reine Barockstadt, eine höfische Stadt gedacht, machte keinen Hehl daraus, eine künstliche Schöpfung zu sein. Und als solche wollte sie auch den Besucher empfangen, ihn gleich in seinen Festsaal führen, ohne ihn lange erst durch Korridore laufen zu lassen und antichambrieren zu lassen.
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