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Der gepuderte Zylinder-Impresario (Mitte) pries Berlin, wo es am schönsten ist: in Potsdam.

© Manfred Thomas

Von Gerold Paul: Silvestrische Nostalgie

„Die Gesellschaft fuer mondäne Unterhaltung“ lud auf den Pfingstberg zum Bohème Sauvage und tauchte das Belvedere in die 20er

Stand:

Gezinkt, gedoubelt? Gefälscht bis in die Zigarettenspitze? Auf den ersten Blick schien die sorgsam kostümierte Kulisse vor und im Belvedere mit all ihrem Glamour und dem unübersehbaren Hang nach „historischer Aufführungspraxis“ dem berühmten falschen Film zu entspringen. Goldkleider, Weißkleider, Fransenkleider, Transvestitenkleider zu Federboa umwehten Ondulierfrisuren Marke leicht kräuselnder Havelsee, Netzstrümpfe, Nahtstrümpfe, Perlonstrümpfe oder Neustrümpfe, bei den Herren Frack und Zylinder, legerer Anzug mit Schiebermütze, auffällig großkarierte Jacketts, Dreiviertelhosen oder Knickerbocker, Gamaschenschuhe, ganz oben Gesichter geölt, gepudert oder Natur. Jede Menge Hosenträger bei Ihr und bei Ihm. Eine bunte Maskerade von Schwarz und Weiß, Rot oder Purpur zierte die unvollendeten Gefilde Friedrich Wilhelm IV. am Samstagabend auf dem Pfingstberg.

Schnitzeljagd, Picknick, Crockett, pausenlos ölte Musik der Zeit zwischen 1920 bis 1940 die skurrile Szene: Fox und Swing, Charleston und Gipsy, Tango und Schlager. Die Leute waren mit sich beschäftigt, man flanierte, tanzte im Stil der Jahre oder sonst wie, es ging tief hinab oder ganz hoch hinauf, man zeigte Coolness, nicht nur beim Roulett oder Black Jack oder genüsslichem Absinth-Schlürfen. Sehen und gesehen werden, wie im richtigen Leben!

Wieder einmal lud die Berliner „Gesellschaft fuer mondäne Unterhaltung“ zu einem Sommerfrischeausflug mit Tanzabend. Gedolmetscht: zu einer Zwanzigerjahreparty „dort, wo Berlin am schönsten ist, in Potsdam“, wie der gepuderte Zylinder-Impresario mit glatter Zunge verriet. The Show must go on, außer „bei starkem Unwetter“, hieß es auf einer der nostalgischen Postkarten. Unwetter gab es am Nachmittag. Die fahle Organisatorin Else Edelstahl im Cremefarbenen wünschte von der Wasserbühne aus „das größtmögliche Vergnügen“, was so vage nach Fun und Gegenwart klang. In jedem steckt ja ein kleiner Bohème, und „sauvage“ gibt das alte Wörterbuch ohnehin mit „wild“, nota bene aber auch mit „im Walde lebend“ wieder. Sylvestrisch eben.

Wo hatten all diese verkleideten Naturkinder nur die täuschend echten Kostüme her? Die Berliner Spaßgesellschaft wirbt per Internet. Dort findet man eine Liste von Kostümausleihen, eine weitere mit Friseur-Adressen, auch für die ondulierten Havel-Wellen. Eine Gesellschaft also mit Arbeitgeber-Charakter, wovon neben dem promovierten Discjockey und fein kostümiertem Cuttering-Personal auch eine hauptstädtische Jazz-Band sowie diverse Divertissements gewisser Damen mit und ohne Feuer gehörten. In Nizza oder Hollywood wird auch nicht mehr geknipst! Das Gros ihrer Nostalgiker bringt die illustre Gesellschaft als Fan-Club mit, Potsdam war eher „Anhang“.

Wie auch immer, man musste dazugehören wollen, sonst wurde das nix. Einen Pampero darauf, wenn die 30 Millionen Reichsmark vom Entree verspielt sind, die Garderobe zur 35. Bohème Sauvage schloss pünktlich um Vier.

Zwei Marginalien: Man wunderte sich bald, wie sich mit nur wenigen Mitteln eine ganze Szene verwandeln lässt, ein bisschen Kostüm, schon ist (von Klingel-Handys abgesehen) eine andere Zeit. Zweitens wurde man, trotz aller Verkleidung, seines Eingedenkens nicht beraubt.

Keine noch Doublette kann ihre Herkunft verleugnen: Kam da nicht auch zuerst die sauvage Vergnügungssucht, kurz danach die strengste Zucht?

Gerold Paul

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