Hemmungslose russische Seele: Sinfoniekonzertsaison im Nikolaisaal startet
Für das „Mächtige Häuflein“, den nationalrussisch gesinnter Künstlerkreis um Mili Balakirew, zu dem neben Nikolais Rimsky-Korsakow auch Modest Mussorgsky gehört, ist er zu französisch, zu deutsch, zu italienisch – jedenfalls nicht russisch genug. Im westlichen Ausland dagegen gilt Peter Tschaikowsky als zu gefühlsbetont russisch.
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Für das „Mächtige Häuflein“, den nationalrussisch gesinnter Künstlerkreis um Mili Balakirew, zu dem neben Nikolais Rimsky-Korsakow auch Modest Mussorgsky gehört, ist er zu französisch, zu deutsch, zu italienisch – jedenfalls nicht russisch genug. Im westlichen Ausland dagegen gilt Peter Tschaikowsky als zu gefühlsbetont russisch. Doch ihn interessiert dieser Richtungsstreit nicht sonderlich. Unbeirrt geht der so Gescholtene seinen eigenen Weg, verhilft der russischen Musik durch seine unverwechselbare Art zur Weltgeltung. In seinen Sinfonien und Opern, besonders aber mit seinem Klavierkonzert b-Moll op. 21, das zu meistern seither allen Pianisten erstrebenswertes Ziel ist. So auch dem in Kiew geborenen und von der Züricher „Orpheum“-Stiftung geförderten Vadym Kholodenko, der den Solopart des Konzerthits am vergangenen Samstag zum Saisonstart der Sinfoniekonzert-Reihe im Nikolaisaal gespielt hat.
Gemeinsam mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt unter Leitung von Howard Griffiths löst er die Erwartungshaltung des Publikums bereits mit den ersten gewichtigen Takten ein, bei denen die thematisch berühmten Akkordschläge gleich mächtigem Glockenschwingen wirken. Kraftvoll und wie hingemeißelt ist da sein Tastatieren, wobei der Steinway-Flügel in hohen Trillerlagen ziemlich glanzlos und hart klingt. Es ficht ihn nicht sonderlich an. Fern jeglicher Routine, dafür mit viel Sinn für analytische Entdeckungen und emotionsgeladene Offenbarungen, mit fingerflink-leichtem Spiel und nuanciertem Anschlag entfacht er einen raffinierten Sinnenrausch. Kurzum: Er brilliert mit slawischer Seele, erweist sich als ein exzellenter Techniker und hellwacher Gefühlsausdeuter, befreit den Tastenhit von Staub und pianistischer Patina. Viel Brio ist da im Spiel von Solist und Orchester, das kerniges, aber nie unbotmäßig vorlautes Blech ins musikalische Geschehen schickt. Flöte, Cello, Klarinette begeistern mit klanglicher Anmut, wenn es gilt, dem Mittelsatz, ein Andantino semplice, kantable Unterstützung zu geben. Frisch und furios, verträumt und quirlig geht es zu, wenn Tastendonner auf Lyrisches trifft und sich vermischt. Für den Jubel bedankt sich der Solist mit Skrjabin-Zugaben: dem Poèm op. 10 und einem verträumten Prelude.
Statt in der annoncierten Urfassung von 1867 erklingt eingangs Modest Mussorgskys „Eine Nacht auf dem Kahlen Berge“ in der bekannten Instrumentierung von Nikolai Rimsky-Korsakow. Dennoch nähert sich der Dirigent dem archaischen Original an, indem er mit dröhnendem Blech, infernalischem Streichertremolo und dynamischen Exzessen eine rhythmische Klangorgie aus satanischem Geheul und hexischem Gekreisch entstehen lässt. Glockenschläge beenden den nächtlichen Spuk, dann sorgt ein religiöser Abgesang für schlichte Seelenerbauung. Einer Bearbeitung haben sich auch des Komponisten „Bilder einer Ausstellung“ unterziehen müssen, diesmal durch Maurice Ravel. Der das Konzert abschließende, effektvoll musizierte Rundgang durch die Bildergalerie beginnt mit der bläserchoralstrahlend intonierten Promenade. Für jedes einzelne Hör-Bild halten die Musiker eine Fülle detailreich schillernder Klangfarben bereit. Grotesk wankt der „Gnomus“ vorüber, imaginiert sich zu Altsaxophon-Klängen ein verträumtes „Altes Schloss“, sorgen Tubaklänge in „Bydlo“ für einen schwer gezogenen Ochsenkarren, tanzen und piepsen die Küken in ihren Eierschalen höchst skurril – und schließlich der groteske Hexenritt der Baba Yaga und das finalhymnisch protzende Große Tor von Kiew. Ein Abend der enthemmten russischen Seele, stürmisch gefeiert.Peter Buske
Peter Buske
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