Kultur: „Sorry“ bedeutet 68 Beats pro Minute
John Moran und Saori Tsukada bei den Potsdamer Tanztagen
Stand:
„Diese Katze macht mich wahnsinnig!“ John Moran kommt auf die Bühne gestolpert, ungelenk und zugedröhnt. Die Katze unterm Tisch gibt es nicht, und Moran, den die New York Times für einen der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart hält, fällt um und lacht sich halb tot. Dann richtet er sich auf, täuscht einen Hilfeschrei vor und stolpert zurück hinter den Vorhang, um zu sehen, wo Saori Tsukada, seine Partnerin des Abends, bleibt.
So beginnt eines der aufregendsten, klügsten und verführerischsten Stücke der 19. Potsdamer Tanztage. „John Moran and his Neighbor Saori“ gehört zu jenen seltenen Theatererlebnissen, in dessen Verlauf sich das eigene Staunen und der Erkenntnisgewinn pausenlos steigern. Was Moran und Saori hier vorführen, ist nichts weniger als die Darstellung des Menschen als Klang. Dabei fängt alles wie eine mittelmäßige Performance an. Aber schnell wird deutlich, dass schon das scheinbar irre Gestolper zu Beginn die Folge kombinierter Soundbits war.
Als die Tänzerin Saori Tsukada auf die Bühne kommt und zu einem Kinderlied mit Kreide eine Ente an eine Tafel malt, abbricht, um noch einmal von vorn anzufangen und zwar exakt auf die gleiche Weise wie zuvor, und sich das Ganze noch weitere Male wiederholt, ist das nicht nur hoch komisch. Es ist der erste Loop des Abends, der in weiteren solchen Schleifen verlaufen wird. Jede der getanzten und gespielten Szenen läuft als Wiederholung ab. Wenn Saori eine McDonalds-Triene mit typischen gelangweilt-schlumpigen Bewegungen tanzt oder eine Barkeeperin, die vor Arroganz kaum laufen kann, oder wenn John an derselben Bar einen geleckten New Yorker Broker mit aufgezogenem Gequatsche gibt oder berühmte amerikanische Fernsehwerbespots aus den Fünfzigerjahren nachahmt oder wenn beide sich selbst in Johns New Yorker Appartment spielen, ist jede dieser Szenen immer zuerst eine Komposition. Ein Klangbild. Die Bewegungen und Worte der beiden sind bei jeder Schlaufe, die läuft, präzise so wie beim ersten oder zweiten oder dritten Mal, als seien sie vor- und zurückspulbar wie ein Tape.
Die Musik oder besser: das Klanggebilde von Morans Stück bringt die Bewegungen der Tänzerin erst hervor, lässt sie entstehen und verschwinden ähnlich wie Licht ein Hologramm herstellen und verschwinden lassen kann. Die große Frage, um die es geht, ist also die nach der Wirklichkeit. Was ist wirklich, was imitiert, oder ist das Imitat die einzig mögliche Wirklichkeit? Besteht die Wirklichkeit des Lebens nicht aus pausenloser Wiederholung, bringt also die Wiederholung unsere Wirklichkeit nicht erst hervor?
Unterscheiden lässt sich das eine vom anderen bei Moran und Tsukada nicht. Alles Sprechen, alles Tanzen folgt rhythmischen Beats, das Hinfallen findet mit 75 Beats pro Minute statt, sagt John an einer Stelle, während die Bachmusik im Hintergrund mit 60 Beats pro Minute läuft, auch sie ist zitiert: John hat jeden Ton einzeln aus allen verfügbaren Bacheinspielungen aufgenommen und so neu zusammengesetzt, wie er Bach „schon immer gern hören wollte“. Auch die Spielszenen auf der Bühne ergeben sich so: Moran nimmt Geräusche, Klänge, Worte auf, die beiläufig gesprochen werden, setzt sie dann am Computer zu einer Komposition zusammen, eine Art Geräusch-Sprache-Klang-Bild, das die Tänzerin mit ihrem Körper schließlich füllt.
Und wenn John zwischen den Szenen Geschichten zum Besten gibt über einen geplanten Selbstmord, wie er einem Anderen eine Frau ausgespannt, wie er eine verloren hat, bleibt in der Schwebe, ob diese Geschichten erlebt oder ausgedacht sind. Und selbst, wenn sie erlebt wären, bliebe die Frage, wer sie erlebt hat: John, der Komponist oder John, der vom Komponisten generierte Erzähler auf der Bühne?
Moran, der mit 24 seine bisher berühmteste moderne Oper „The Manson Family“ komponierte, in der Iggy Popp auftrat, ist mit diesem fragmentarischen Tanzstück ähnlich radikal wie Samuel Beckett in seinen späteren Theaterstücken. Dort hat der irische Autor nichts weniger als die Darstellung der Sprache als Körper versucht, und gleichzeitig beherrscht Moran den typischen amerikanischen Witz, durch den das Hochkomplexe ironisch leicht und wunderbar unterhaltsam wird. Antje Strubel
Antje Strubel
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