POSITION: Städtebauliche Zeitschichten miteinander versöhnen
Potsdam und seine städtebaulichen Identitäten. Ein Debattenbeitrag Von Michael Braum
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Welche Bauten schaffen Potsdams Identitäten? Sind es wirklich ausschließlich die Bürgerhäuser, die Schlösser mit ihren Parks, die Kirchen und Villen mit ihren Gärten? Ist das Mercure wirklich so schlecht? Wieso müssen Ikonen, die andernorts unter Denkmalschutz gestellt werden, in Potsdam abgerissen werden? Wie die Stadt mit ihrem baulichen Erbe umgeht, bezeugt, dass identitätsstiftende Werte verkannt werden.
Eine differenzierte Auseinandersetzung jenseits der Polarisierung zwischen Verteufelung und Ehrfurcht gestaltet sich in Potsdam schwierig. Die Debatte wird noch immer emotional geführt. Planungs- und Baugeschichte verschwimmen mit individuell-biographischen und gesellschaftspolitischen Perspektiven. Es führt aber kein Weg daran vorbei: Die Nachkriegsmoderne ist – neben anderen, das Stadtbild prägenden Epochen – auch ein konstitutiver Bestandteil der Stadtentwicklung. Aus diesem Grund bedarf es eines angemessenen Dialogs über die Qualitäten und mögliche Identitätsstiftungen der Bauten und Räume dieser Zeit.
Ich wünsche mir, dass Verantwortungsträger und die Bürger vom gleichen Mut „beseelt“ wären wie die Architekten und Baumeister in den vergangenen Jahrhunderten: Potsdam hat durchaus die Tradition, an eine Geschichte innovativen Städtebaus und zeitgemäßer Architektur anzuknüpfen. Plagiate gab es auch damals, sie wurden jedoch zeitgemäß interpretiert und an Ort sowie Nutzung angepasst.
Die heutige Herausforderung besteht darin, an diesen vergangenen Mut anzuknüpfen, indem die unterschiedlichen städtebaulichen Zeitschichten miteinander versöhnt werden und dabei auch heute wieder international renommierten Architekten zukunftsweisend arbeiten. Eine derartige Souveränität scheint es in Potsdam schwer zu haben. Offensichtlich wird dies bei der in Teilen fachlich unseriösen Stigmatisierung der Nachkriegsmoderne in der Stadt.
Sollte doch in den 50er und 60er Jahren alles besser werden. Man wollte aus den Fehlern der Vergangenheit lernen; die Enge der Stadt des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts sollte einer „Stadtlandschaft“ weichen. Als die Utopie Realität wurde, rief sie Kritik auf den Plan. Die autogerechte Stadt und die Ökonomisierung des Bauens hat im Westen bis in die 70er Jahre und im Osten bis in die 80er Jahre Spuren hinterlassen. Und trotzdem. Trotz unbestrittener Fehler, die aus der visionären Stadtlandschaft die autogerechte Stadt werden ließen, gilt es, jenseits des Städtebaus des „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ architektonisch wertvolle Zeitzeugnisse zu schützen.
Qualitätsvolle Beispiele stehen für die Bedingungen ihres Werdens. Dazu gehören „auch die Brüche und Kontraste im Stadtbild, an denen sich Geschichte ablesen, erklären und verstehen lässt“, wie es der Architekturhistoriker Werner Durth formulierte. Und so möchte ich dazu anregen, die Rekonstruktionseuphorie heutiger „Stadtbaukünstler“ ebenso zu hinterfragen wie die Hightecheuphorie von „Zeitgeistern“. Beide negieren mit ihrem Absolutheitsanspruch die Stadt als gebautes Abbild eines gesellschaftspolitischen Kontinuums.
Die Zeiten der Deutungshoheit einzelner Positionen sind vorbei. Will man Baukultur schaffen, gilt es, diejenigen zu stärken, denen die Weiterentwicklung unserer Städte in ihrer ganzen Komplexität ein Anliegen ist. Karl Friedrich Schinkel formulierte dies so: „Historisch ist nicht, das Alte allein festzuhalten oder zu wiederholen, dadurch würde die Historie zu Grunde gehen. Historisch handeln ist das, welches das Neue herbeiführt und wodurch die Geschichte fortgesetzt wird.“ Dies gilt heute unverändert.
Wie ist der Weg, den Potsdam gewählt hat, zu bewerten? Die städtebauliche Reparatur rund um den Landtag im Sinne einer kritischen Rekonstruktion des historischen Stadtgrundrisses macht Sinn. Dies darf jedoch in keiner Weise die Architektur der Einzelgebäude präjudizieren, sondern sollte lediglich der Festlegung der „Körnung“ der Stadt dienen. Eine kritische Rekonstruktion beinhaltet auch immer den Respekt vor dem Vorgefundenen. So verfügt das östlich an die Bibliothek angrenzende Wohngebäude neben den oben genannten unbestritten über architektonische Qualitäten, die es zu respektieren gilt.
Existiert die Bereitschaft des Weiterbauens, entstehen Ideen in der Breite der Stadtgesellschaft, die in Abhängigkeit vom jeweiligen Budget umgesetzt werden können. Wenn der Mut zum Experiment mit dem Besten der Gegenwart, für den Potsdam in der Historie stand, auch in Zukunft existiert, lassen sich ansprechende Atmosphären, lebenswerte Grundrisse in Verbindung mit zeitgemäßen gestalterisch anspruchsvollen Fassaden entwerfen.
Potsdam hat die Chance, baukulturell anspruchsvoll zu handeln, indem die Bau- und Stadtgeschichte mit gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen zusammen gedacht werden. Auf diesem Weg kann in der Potsdamer Mitte zusammenwachsen, was heute primär ideologisch unvereinbar zu sein scheint. Noch kann man am Alten Markt die Situation um 1989 erahnen. Die Ablehnung der „kapitalistischen Stadt“ führte zum radikalen Bruch mit den städtebaulichen Traditionen. Wohnungsbau wurde auch für die breiten Schichten der Bevölkerung in zentraler Lage möglich und der Abriss des Stadtschlosses schuf Platz für einen verkehrsoptimierten Städtebau.
Anders als Gerold Paul mich in dem am 18. Juli 2011 in dieser Zeitung erschienenen Artikel „Die Stadt des 21. Jahrhunderts“ zitiert, bin ich sehr wohl der Ansicht, dass die verkehrsgerechte Stadt zu revidieren ist. Das darf der Integration des baulichen Erbes der Nachkriegsmoderne jedoch nicht im Wege stehen. Eine Differenzierung tut Not, um Identität als Kontinuität von Qualitäten und nicht als Retorte zu begreifen.
Will man die Suche nach der verlorenen Identität der alten Residenzstadt mit den besten Absichten nachvollziehen, die man im wieder aufgebauten Stadtschloss oder den Leitbauten zu finden hofft, bleibt eine Unsicherheit: Was kann das nicht tatsächlich Rekonstruierte, sondern sich nur äußerlich am Original Orientierende zu welcher Identität beitragen?
Die Diskussion um die Landesbibliothek macht das Dilemma offensichtlich: Wie schwer war es, die Bibliothek zu erhalten, wo sie sich doch wunderbar für eine Bibliotheksnutzung eignet. Nachdenklich stimmt, dass sich in der neuen Fassade nichts von dem architektonischen Ausdruck des Originals wiederfinden will. Gehörte das Gebäude vielleicht auch nicht zu den Ikonen der Nachkriegsmoderne, würde die Fassade auch in der ursprünglichen Form heute noch zu den besseren den Platz der Einheit fassenden Bauten gehören.
Es geht also um ein Weiterbauen und nicht um das Entweder oder Oder, es geht um eine Vielfalt von Epochen, Lebensentwürfen und Schönheitsbegriffen. Grundlage einer solchen Überlagerung von Zeitschichten sind umfassende Ansprüche an die Qualität des Bestehenden, ein verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Geschichte in all ihren vorhandenen und verlorenen Facetten sowie die Suche nach Erneuerung. Nachkriegsmoderne weiterdenken, sie verändern, ohne ihre Qualitäten zu zerstören, muss das Ziel sein.
Michael Braum ist Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur mit Sitz in Potsdam in der Schiffbauergasse und Professor am Institut für Städtebau und Entwerfen der Fakultät für Architektur und Landschaft an der Leibniz Universität Hannover
Zum Weiterlesen empfiehlt Michael Braum das Buch „Nachkriegsmoderne in Deutschland. Eine Epoche weiterdenken“ von der Birkhäuser Verlag AG
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