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Kultur: „Stalin fand Gefallen daran“
Jörg Baberowski über Gewalt im Stalinismus – Am Donnerstag stellt er sein Buch in Potsdam vor
Stand:
„Und wir sollten auch nicht das Naheliegende übersehen – dass Stalin es getan hat, weil es ihm gefallen hat“, so ein Zitat des englischen Schriftstellers Martin Amis. Wer Ihr Buch „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ gelesen hat, ist nicht nur schockiert darüber, wie sehr Stalin Gefallen an Mord und Terror gefunden hat, sondern auch darüber, wie stark das alles in seiner Person zentralisiert war. Herr Baberowski, kamen Ihnen bei der Arbeit an Ihrem Buch nicht doch gelegentlich Zweifel daran, dass so viel Böses allein in einer Person zu finden sein kann? Dass hier nicht doch ein System, bestimmte Strukturen alles erst ermöglicht haben?
Eine schwierige Frage. Aber ich muss gestehen, bei mir war es eher umgekehrt. Ich hatte mir nach der Lektüre all der Dokumente nicht vorstellen können, dass die Strukturen dafür verantwortlich zu machen sind. Mir ist klar geworden, dass nicht Strukturen, Ordnungen oder Mentalitäten handeln, sondern Menschen. Und unter bestimmten Umständen, in bestimmten Räumen haben solche Menschen Möglichkeiten, so zu handeln. Im Stalinismus gab es keine Regelwerke, die ein Handeln aus Gewalt hätten stoppen können. Ich behaupte aber nicht, dass Stalin der alleinige Urheber der Gewalt gewesen ist. Natürlich waren Hunderttausende an dieser Gewaltorgie beteiligt. Aber er hat sie ins Werk gesetzt, und er war derjenige, der dafür sorgte, dass sie nicht aufhörte.
In Ihrem Buch, das Sie am morgigen Donnerstag in Potsdam vorstellen, schreiben Sie von „staatsfernen, vormodernen Gewalträumen“. Was meinen Sie damit?
Das sind Räume, in denen der Alltag nicht mehr strukturiert wird durch berechenbare Verfahren von Institutionen und Bürokratien, sondern wo Gewalt zur wichtigsten Handlungsressource geworden ist. In der Sowjetunion hatte sich bis in die frühen 30er Jahre so etwas für ein staatliches Gewaltmonopol nicht durchsetzen können. Der Umgang mit Gewalt war eine ganz natürliche Angelegenheit.
Lenin hatte in seinem Testament eindringlich vor Stalin gewarnt. Wie konnte es diesem von Gewalt so durchdrungenen Menschen trotzdem gelingen, an die Spitze der Macht zu kommen?
Es waren gerade diese von Gewalt geprägten Fähigkeiten. Auch Lenin hatte Gewalt niemals abgelehnt. Aber für ihn war das mehr oder weniger ein abstraktes Problem, und ein Gewalteinsatz innerhalb der Führungselite war für Lenin und seine Genossen ein absolutes Tabu. Stalin hatte keine Skrupel, Gewalt auch gegen Seinesgleichen einzusetzen. Und vor dieser Einstellung hatte Lenin gewarnt. Nicht davor, dass Stalin Gewalt gegen die Bevölkerung einsetzen könnte. Die bolschewistische Herrschaft war nicht durch Wahlen legitimiert, sie konnte sich nicht auf den Willen des Volkes berufen. Macht erlangte nur, wer sich im Inneren der Parteistrukturen durchsetzen konnte. Stalin besaß diese außerordentlichen manipulativen Fähigkeiten, mit denen er sich in diesem Umfeld besser als andere durchsetzen konnte. Hinzu kam, dass sich diese Partei in den 20er Jahren in einen Verband aus Arbeitern und Bauern verwandelte. In diesem neuen Rahmen konnte ein schlichter Mann wie Stalin ein Repräsentant bäuerlicher Aufsteiger werden.
Sie schreiben, dass man Gewalt nicht von ihrem Anfang her verstehen könne, sondern nur in ihrer Dynamik. Aber was ist mit dem Motiv, das ja am Anfang jeder Gewalt steht?
Es kommt überhaupt nicht auf das Motiv an, wenn man verstehen will, was mit Menschen in der Gewalt geschieht. Am Anfang steht oft ein Motiv. Manchmal ist, was als Motiv vorgetragen wird, aber nur die Rechtfertigung für Gewalttaten. Wenn aber die Gewalt spricht, verändern sich Menschen, jene, die die Gewalt ausüben, die sie erleiden, und jene, die ihr Zeuge werden. In Gewalträumen verändern sich Gesellschaften. Menschen werden misstrauisch, furchtsam, und sie werden an nichts anderes denken als an die Wiederkehr der Gewalt. Es ist unter solchen Umständen irrelevant, welchen Motiven die Gewalt folgt. Wenn man verstehen will, was mit Menschen unter solchen Umständen geschieht, muss man die Gewalt selbst beschreiben. Denn sonst versteht man gar nicht, was Gewalt ist und was sie mit Menschen macht.
Darum auch die ausführlichen Beschreibungen von Gewaltexzessen in Ihrem Buch?
Genau das muss man tun: die Dynamik von Gewalt beschreiben, weil sonst keiner versteht, was die Verschreckten, die Verängstigten und Terrorisierten bewegt, wenn sie handeln. Wenn wir uns nur auf die Überzeugungen der Täter konzentrieren, werden wir nicht verstehen, dass sich Menschen in Situationen der Gewalt anders verhalten müssen als in einer befriedeten Gesellschaft. Ein Argument kann ignoriert werden, ein Schlag ins Gesicht nicht. Gewalt kann niemand ignorieren. Deshalb habe ich versucht, sie möglichst dicht zu beschreiben, damit die Ausweglosigkeit deutlich wird, die Menschen in solchen Situationen erfahren müssen. Gewalt verändert alles. Und so unangenehm das für uns auch sein mag, ich bin der Meinung, dass Historiker und Sozialwissenschaftler sich mit der Praxis von Gewalt auseinandersetzen müssen, wenn sie verstehen wollen, was sie anrichtet.
Diese Gewalt ist irgendwann nicht mehr zu kontrollieren, wird zum Selbstläufer und nur noch Mittel zum Zweck. Sie sprechen von einer Entgrenzung dieser Gewalt. Ab einem bestimmten Punkt gibt es also einfach kein Zurück mehr?
Gewalt erzeugt Anschlusszwänge. Wer einmal damit angefangen hat, andere Menschen scheinbar grundlos zu töten, kann nicht einfach aufhören, ein Gewalttäter zu sein. Was hätte Stalin denn auch tun können? Hätte er all die Menschen, die er vertreiben, verletzen und foltern ließ, in die Freiheit entlassen sollen? Sie wären eine lebendige Repräsentation seiner Herrschaft gewesen. Molotow, einer der engsten Gefolgsleute des Despoten, hat einmal gesagt, Stalin habe getötet, damit die Überlebenden sich nicht hätten beklagen können. Ohne es zu wissen, beschrieb Molotow die Dynamik despotischer Gewalt.
Sie nennen Stalin einen Psychopathen.
Je intensiver ich mich mit Stalin auseinandersetzte, umso klarer wurde mir, dass er viele Eigenschaften besaß, die typisch sind für Psychopathen: das manipulative Verhältnis zu seiner Umwelt, das Misstrauen gegenüber allem und jedem, die Gefühlskälte, die Unfähigkeit, Mitleid mit anderen Menschen zu haben, Größenwahn und ein bizarrer Realitätsverlust. Hinzu kommt sein Sadismus, die Freude, andere Menschen zu töten und zu verletzen. Man kann diese Eigenschaften sehr deutlich aus den Randbemerkungen herauslesen, die er auf vielen Briefen, Berichten und Terrorbefehlen hinterlassen hat. Er fand Gefallen daran, Menschen ins Gefängnis zu bringen, sie misshandeln und oft erst nach Monaten umbringen zu lassen. Und er hat sich berichten lassen, was mit seinen Opfern in den Gefängnissen und Folterkellern geschah. Es gibt keinen Zweifel daran, dass ihm gefiel, was er darüber zu lesen bekam.
Gab es keinen Versuch, Stalin umzubringen?
Stalin selbst hat solche Attentatsversuche nur selbst inszeniert, um bestimmte Menschen töten zu lassen.
Also hatte Stalin den perfekten Raum für sich geschaffen? Ein ständiger Gewaltexzess, befeuert durch eine extreme Paranoia?
Ja, eine extreme Paranoia in einer Umgebung ständiger Unsicherheit. Nicht einmal die Gefolgsleute wussten, was die anderen taten. Sie beteiligten sich an Mordtaten, weil sie nicht Opfer werden wollten, weil sie nicht voraussehen konnten, was geschehen würde, wenn sie nicht gehorchten. Und so wurden sie unfreiwillig zu Architekten der Paranoia, der sie dann nicht mehr entkommen konnten.
Was sagt das über den Menschen allgemein aus, wenn er in Extremsituationen zu einem solchen Handeln neigt?
Der Soziologe Heinrich Popitz hat in seinem Buch „Phänomene der Macht“ geschrieben: „Menschen müssen nicht töten, sie können es aber immer.“ Und dessen sollten wir uns immer bewusst sein, dass wir töten können. Wir alle können Messer einsetzen, mit der Faust schlagen, einen Revolver bedienen. In bestimmten Situationen, wenn die Ordnungen und Regelwerke zusammengebrochen sind, in Bürgerkriegen etwa, gewinnen die Skrupellosen, die Psychopathen und Gewalttäter Vorteile gegenüber denen, die das Argument der Gewalt vorziehen. Wir sollten dankbar sein für das staatliche Gewaltmonopol, für die rechtsstaatliche Ordnung, in der wir leben dürfen. Wir sollten sie verteidigen, jeden Tag. Denn sie schützt uns voreinander, und sie schützt uns vor der Gewalt und ihren Vollstreckern.
Das Gespräch führte Dirk Becker
Jörg Baberowski stellt sein Buch „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ am morgigen Donnerstag, um 19 Uhr, im Einstein Forum, Am Neuen Markt 7, vor. „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ ist im C. H. Beck Verlag in München erschienen und kostet 29,95 Euro
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