Kultur: Sternstunde!
Aufwühlende Aufführung von Brittens „War Requiem“ in Friedenskirche
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Aufwühlende Aufführung von Brittens „War Requiem“ in Friedenskirche „Ich bin der Feind, den du getötet hast, mein Freund“, ohne instrumentale Untermalung, fast tonlos und lapidar deklamiert der Bariton diese verbale Geste der Versöhnung. Fern des Schlachtfelds, im Totenreich, wummert kein Einschlag, heult keine Granate mehr. „Lasst uns schlafen nun“, singen Bariton und Tenor, begleitet vom wiegenden Klang der Klarinette und Harfe. Engelsgleiche Knabenstimmen geleiten sie ins Paradies. Verhalten und leise stimmt der gemischte Chor die Bitte um ewige Ruhe an. Dazu weben Orgel und großes Orchester ein hell getöntes und zartes Klanggespinst, über dem leuchtend der Solosopran schwebt. „Requiescat in pace, amen.“ In äußerster Schlichtheit endet ein Werk, das den Toten von Kriegen ein erschütterndes Denkmal setzt. Nach diesem Schluss gibt es wohl keinen, den die hinreißende Aufführung von Benjamin Brittens „War Requiem“ in der Friedenskirche unbeteiligt gelassen hätte. Diesem ungewöhnlich konzipierten Klagegesang lauscht man gebannt. Ein dumpfer Gongschlag eröffnet die Totenfeier. Röhrenglocken läuten, der Chor murmelt in fahlem Sprechgesang die Worte „Requiem aeternam“, unterstützt von düsteren Klangwellen der Streicher. Als aufführungspraktischer Glücksfall erweist sich die Aufstellung der Mitwirkenden, durch die sich eine faszinierende Raumklangwirkung ergibt. Im Altarraum sind das große Orchester (Brandenburgisches Staatsorchester Frankfurt), der gemischte Chor (Oratorienchor Potsdam) und Sopranistin (Abbie Furmansky) platziert, die unter Leitung von Kirchenmusikdirektor Matthias Jacob die lateinische Totenmesse vortragen. Vom Eingangsbereich her erklingen die kommentierenden, das liturgische Geschehen kontrastierenden Gedichte von Wilfred Owen, unter Leitung von Evan Christ vorgetragen von Tom Allen, Tenor (englischer Soldat), Jonathan Job, Bariton (deutscher Soldat) und einem Kammerorchester. Von der Orgelempore herab tönen die silberhellen Stimmen des Poznaner Knabenchors (Leitung Jacek Sykulski), der – mit Orgelunterstützung – die lateinischen Hymnen anstimmt. Was sich ungewöhnlich anhört und ansieht, ist vom Raum der wieder aufgebauten Kathedrale in Coventry inspiriert, bei deren festlicher Einweihung im Jahre 1962 Benjamin Brittens „War Requiem“ erstmals erklang. In seiner Aussage ist es ein zeitlos gültiges Bekenntnis zu Frieden und Völkerverständigung, zu Vergebung und Lebenserhalt. Es vereint kirchliche Feierlichkeit mit aufrüttelnder Aktualität, ist liturgischer Kult und engagierte Zeitkunst. Matthias Jacob und seine Mitstreiter (exzellent koordiniert per Monitor) betonen diese Dialektik eindringlich und durch durchweg antiromantischen Ausdruckswillen. Spannung und Anteilnahme herrscht von Anfang an. Nachdem der Knabenchor aus der Höhe gläubige Zuversicht verbreitet („Te decet hymnus“), wird der fromme Gesang durch die Klangschilderung von donnernden Geschützen, Granateinschlägen, grellen Signalattacken unterbrochen. Ähnliche Wirkungen stellen sich nach dem „Salva me, fons pietatis“-Rettungsgesang ein, denen das burschikose Männerduett folgt, die quasi von einem Tanz auf dem Schlachtfeld erzählen („Nein, der Tod war niemals unser Feind!“). Solche packenden Momente der Gegenüberstellungen gibt es viele, denen Matthias Jacob zu prägnanter Wirkung verhilft. Das Staatsorchester folgt seinen Intentionen mit gespanntem Musizieren. Selbst in den Fortefortissimoausbrüchen bleibt es stets klangvoll und transparent, besticht es – in den archaischen Passagen – mit rituell-herber Ausdruckskraft. Den Lyrismen entspricht es mit geschmeidiger Klangkultur. Anpassungsfähig begleitet es den Oratorienchor. Dessen Mitglieder scheinen sich einer Frischzellentherapie unterzogen zu haben, denn so herrlich frei, klar, textverständlich, intonationssauber, phrasierungsgenau und innerlich beteiligt hörte man ihn lange nicht. Vom prononcierten Psalmodieren über den ausufernden Aufschrei bis hin zu gefühlvollem Bittgesang durchmisst er ein facettenreiches Spektrum. Präzise verzahnt sich der chorsinfonische Klang aus dem Altarraum mit dem des Aufgebots unter der Orgelempore. Auch hier sind Mitglieder des Staatsorchesters an der nicht weniger expressiven Ausdeutung der Partitur beteiligt, die den beiden Männerstimmen fulminante Unterstützung geben. Strahlkräftig und von schneidender Diktion, dann wieder berührend in der Sentenz „Tragt ihn in die Sonne“ begeistert Tenor Tom Allen. Nicht weniger intensiv gestalten Bariton Jonathan Job und Sopranistin Abbie Furmansky mit voluminösen und konturenfesten Stimmen ihre Parts. Letztere singt ihre Partie gleich einer Priesterin von der Friedenskirchenkanzel herab. Nach anderthalb Stunden hat die Anspannung eines jeden Beteiligten ihren Höhepunkt erreich. Nach Momenten der Besinnung löst sie sich in begeistertem Beifall. Potsdam erlebte eine kirchenmusikalisch-zeitgeistige Sternstunde!
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