
© Jörg Richter
Kultur: Stillleben des Verfalls
Die industriellen Brachen Ostdeutschlands: Hassan Jörg Richters Fotografien vergessener Orte im „Leander“
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Zerfall ist das Thema von Hassan Jörg Richter, verlassene Orte in der industriellen Brache Ostdeutschlands, zumeist leere Räume, die seit Ewigkeiten nicht mehr betreten wurden. Richter bewegen diese Orte seit den Neunzigerjahren, seitdem er anfing, die verfallende Potsdamer Innenstadt der Nachwendezeit zu dokumentieren. 1985 kam Richter nach Potsdam, wohnte direkt an einem Armeegelände in der Nedlitzer Straße und bekam dadurch mit, wie die Sowjets nach der Wende abzogen und der Osten Deutschlands zu einer industriellen Brache verkam. Es sei eine politische Entscheidung gewesen, eine funktionierende Wirtschaft zu demontieren, und der nachfolgende Verfall nur eine logische Konsequenz.
Richter benutzt relativ früh diese unvoreingenommene Perspektive, er beobachtet die Konsequenzen, ohne sie zu bewerten. „Ein Raum, der leer steht, ist zunächst einmal ein Freiraum, in dem etwas Neues, etwas Optimistisches passiert“, sagt er. Und genauso wirken auch seine Fotografien: erstaunlich lebendig, voll intensiver Farben, ein interessanter Kontrast zum toten, fast verrottenden Sujet der Bilder. Richter versteht sich dabei als beobachtendes Element, welches eine Bestandsaufnahme macht, ohne dabei deprimierend zu wirken – obwohl ihm einiges Deprimierendes in seiner Arbeit begegnet, wie zuletzt in Zeitz, eine Stadt, die ausstirbt. Aber Richter entscheidet sich dennoch für eine farbige, lebendige Dokumentation: Schwarz-Weiß-Aufnahmen würden nicht funktionieren, viel zu deprimierend.
Als Anfang der Neunzigerjahre Potsdams Innenstadt brach lag und dem Verfall preisgegeben wurde, war Richter mittendrin, in der lebendigen Hausbesetzerszene, die sich die verfallenden Häuser aneignete. Damals herrschte eine Aufbruchstimmung, ein grenzenloser Optimismus, ein tiefschürfendes Gefühl der Richtigkeit – in dieser Aufbruchstimmung wollte man die normalen Leute mitreißen. Dennoch wurde es ein verlorener Kampf, die Ideale konnten sich gegen die Macht des hereinströmenden Kapitals einfach nicht wehren. Potsdam änderte sich, und nicht gerade zum Besseren: „Wir sind irgendwie abserviert worden“, meint Richter. „Ich fühle mich in dieser Stadt einfach nicht mehr wohl.“ Deshalb hat er ihr auch den Rücken gekehrt, lebt jetzt außerhalb, auf dem Land. Vom alten Potsdam mit seiner Aufbruchstimmung merkt Richter nicht mehr allzu viel: Es seien nur noch wenige Sachen, die sich retten konnten, das „Archiv“ beispielsweise. Dort hat er auch schon einen Diavortrag gemacht über seine Fotodokumentation der Hausbesetzerszene. Heute klingt das alles unvorstellbar, dass die Dortustraße beispielsweise damals komplett abgerissen werden sollte.
Inzwischen lebt Richter von seiner Arbeit, seitdem er sich 2007 auf die Fotografie professionalisiert hat, ein weiter Weg von seinen Anfängen mit einer Practica im Sommer 1989. Mittlerweile stellt er auf Kunstmessen in Paris aus, vor allem aber im asiatischen Raum, zum Beispiel in Peking. In China gebe es eine breite Mittelschicht, die in Kunst investiert. „Früher wurde aus den USA die europäische Kunst gekauft, doch das ist jetzt vorbei“, sagt Richter. Ab und zu bekomme er noch Aufträge angeboten, aber angewiesen ist er darauf nicht mehr.
Technisch hat sich Richter auf die analoge Fotografie spezialisiert, vor allem aus qualitativen Gründen – die Auflösung ist einfach besser, besonders bei den großformatigen Auflösungen, obwohl die ausgestellten Bilder meist im Mittelformat sind, wofür er eine Plattenkamera benutzt. Das seien ziemlich lange Belichtungszeiten, die aber eine größere Intensität garantieren. Und irgendwie passt diese ursprüngliche Fotografie auch besser zu den Motiven: Das Festhalten am Vergangenen braucht eben keine Digitalität. Oliver Dietrich
„Vergessene Orte, lichte Momente“, bis September im „Leander“, Benkertstraße 1
Oliver Dietrich
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