Kultur: Tango-Tsunami
Bajofondo Tangoclub im Nikolaisaal
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An Tangomusik erinnert am Samstagabend im fast ausverkauften Nikolaisaal erst einmal nichts. Wie eine wilde Piratengang sehen diese Jungen vom Rio de la Plata aus. Ein Mann mit Korsarenkopftuch und Dreitagebart zieht und schiebt das Bandoneon mit muskulösen Oberarmen, neben ihm steht ein groß gewachsener Violinist in schwarzem T-Shirt mit dunklem Zopf, ein traditioneller Kontrabass befindet sich ebenso auf der Bühne wie mindestens vier Laptops.
Nur der Gitarrist und Gründer Gustavo Santaolalla scheint nichts von einem Piraten zu haben. Das erwartet man auch nicht unbedingt von einem zweifachen Oscarpreisträger für Filmmusik. Die argentisch-uruguayische Formation Bajofondo Tangoclub ist angetreten, um den Tango ins 21. Jahrhundert zu steuern. Sie haben Hip Hop, Techno, Rap, Elektro-Beats geladen und auch ein paar Fetzen Tangotradition. Das klingt etwas anders, als das, was sich manche Zuhörer wohl vorgestellt hatten. Doch die meisten wussten Bescheid, ließen sich mitreißen und verwandelten den Nikolaisaal zum Finale in eine vibrierend-heiße Dancehall.
Schräg schon der Beginn, als Javier Casalla einen Walzer auf einer historischen Strohgeige spielt. Das ist eine Geige ohne Resonanzboden, aber mit einem Trichter wie ein Grammophon. Nach dieser kuriosen Reminiszenz aus der Musikgeschichte geht es zur Sache. Stampfende Beats aus der Rhythmusmaschine, entfesselte Akkorde vom Keyboard, pulsierende Basslinien bringen Bilder und Menschen in Zuckungen. Rhythmisch wechselnde Videos spiegeln die Musik exakt auf gleich zwei Leinwänden wieder. So wie die Musiker die Töne ausstoßen, schleudert V-Jane Veronica Loza, die einzige Frau unter sieben Männern, Bilder hervor, von Maschinen, Menschenmengen, Städten, Tänzern, Schriftzügen – das ergibt psychedelische Gewitterstürme, synästhetische Tsunamiwellen, denen man nicht entkommt.
Zu den elektronischen Klängen aus Juan Campondónicos Tonmaschinen gesellen sich die ebenso elektrischen Töne aus Luciano Supervielles E-Piano. Wenn Gustavo Santaolalla mit Reibeisenstimme ins Mikrofon röhrt und brüllt und dazu hüpft wie ein Gummiball, geht die Post ab. An den alten Tango erinnern nur die lang gezogenen Klänge von Bandoneon und Violine, selten der Rhythmus, manchmal ein Zitat aus einem Klassiker. Einiges verweist auf Astor Piazolla, den Schöpfer des Tango nuevo. Doch während jener den Tango in symphonische Höhen und in die Konzertsäle geführt hatte, bringen Bajofondo Tangoclub ihn wieder dahin zurück, wo er hergekommen ist, in einfache Clubs und Tanzsäle. Alte Kronleuchter werden von den Tangopiraten abgeschraubt und mit grellen Scheinwerfern ersetzt. Die Grenze zwischen Musikern und Publikum löst sich auf zugunsten eines gemeinsamen Events. Dass sich selbst der Nikolaisaal mit seiner starren Bestuhlung dazu eignete, spricht nur für Bajofondo Tangoclub. Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
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