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Kultur: Tanzende Hand im Niemandsland

Lesung von Volker Braun im Waschhaus

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Lesung von Volker Braun im Waschhaus Zunächst sah der Büchner-Preisträger des Jahres 2000, Volker Braun, bei der sechsten und letzten Lesung des Jubiläumszyklus des Wist´schen Literaturladens schwarz. Das jedoch nur, weil zunächst im mit rund fünfzig Zuhörern besetzten „Club" des Waschhauses das Licht zu schummrig war. Brauns formulierter Kommentar dazu, „man liest in völliger Fremde, gibt es keinen Trick, dass man einen Schimmer auf die Versammlung bekommt“, war also schon zum Auftakt der Lesung aus seinem neuesten Werk „Das unbesetzte Gebiet" ein Beweis für seine dichterische Klasse. Aus „mehr Licht" wird ein Kunstgriff, aus einer einfachen Handlung eine Nuance, aus einem Publikum eine Versammlung. Der aus dem Vogtland stammende Braun hatte leichtes Spiel mit dieser, führte er doch zu Beginn durch den Text „Das Hauptaugenmerk", Teil der seinem Buch hinten an gestellten Sammlung kürzerer an Brecht geschulter Moralstückchen ans Neue Palais nach Potsdam. Der Anblick einer Schellenkappen bemützten Studentin, auf der der Aufnäher „outdoor" zu lesen war, lässt Braun wünschen, dass alle Arbeitslosen im Lande dies als Zeichen trügen, „um den Skandal auszuleuchten." Braun schreibt immer auch im aktuellen politischen Bezug, was nicht zu vergessen ist, wenn er den Leser in „Das unbesetzte Gebiet" mitnimmt, jene Region im Erzgebirge, in der historisch verbürgt, nach dem 2. Weltkrieg für fünf Wochen alles möglich schien, weil zunächst weder Amerikaner noch Russen dort eine neue Ordnung einrichten wollten. Den Menschen, keine „feinen Leute", sondern „Pack", wie Braun es nannte, spürten in dieser Zeit des Chaos’ „die Lust der Selbstbestimmung, den Rausch der Gerechtigkeit", Leute mit Namen wie Irmisch, Krause Willy oder Korb Paul. Braun hat dieser schier unglaublichen Geschichte nichts Faktisches hinzugedichtet, er hat in regionalen Archiven in Schwarzenberg, wo seine Geschichte spielt, oder in Aue recherchiert. Denn, wie Braun anschließend im wohl längsten Literaturgespräch nach einer Lesung in Potsdam sagte, „Literatur muss ganz nüchtern sein." Wo nichts hinzugedichtet wird, kommt das Literarische zum Tragen. Und das kommentiert Volker Brauns Hand wie eine zweite Stimme während seines Vortrages. Sie nimmt seinen unzweifelhaften, aufdrängenden kurznotigen Sprachtakt auf und gerät in einen synchronen Wellengang, hebt sich, wenn eine Figur zu sprechen beginnt oder ruht in der Höhe, wenn es spannend wird. Die zeitkritische Ebene seiner Erzählung liefert der „sächsische Eulenspiegel", wie Braun von einer Zuhörerin voller Bewunderung genannt wurde, am Ende des Buches und auch der Lesung durch die Sequenz „Unbesetzte Gebiete". Braun, das vierte der dicken „B’s“ der DDR-Literatur neben Brecht, Biermann und Brussig, schreibt: „Ringsum, hinter den Grenzen, deren Verlauf ich nicht genau kenne, wird von Fortschritt geredet, von Rückschritt, von Reformen – hier sind das leere Worte, hier setzt sich kein Gedanke fest. Ein Niemandsland, tatsächlich, und Verlorenheit macht sich breit; man hat uns vergessen.“ Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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