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Liebesmarter. Anton Adassinsky in Harlekin.

© Isolde Matkey

Kultur: Tanztheatermärchenwelt

Derevo verzauberte in der „fabrik“ mit „Harlekin“

Stand:

Was für zärtliche Momente! Harlekin schaut aus dem Fenster. Sein sehnsuchtsvoller Blick kennt nur eine Richtung. Er gilt dem Fenster von Pierretta, die auch für einen kurzen Moment erscheint. Harlekins Gesicht blüht auf, seine Augen bekommen dieses erfüllte, selige Leuchten. Pierretta lächelt herzübersprudelnd. Dann faltet sie beide Hände, legt den Kopf schräg darauf, schließt die Augen und taucht hinter ihrem Fenster ab. Harlekin nickt wissend. Zeit, schlafen zu gehen.

Immer wiederholt sich diese Szene. Und immer ändert sich etwas, wird die Geschichte mit kleinen Gesten, Andeutungen weitererzählt. Es sind diese Momente in der zauberhaften Welt des Tanztheaters Derevo, an denen man sich nicht satt sehen kann und in denen sich die große Meisterschaft, die Hingebung und die Liebe für die wundersamsten Geschichten von Anton Adassinsky und Elena Yarovaya zeigen.

„Harlekin“ heißt das jüngste Tanztheatermärchen, mit dem Anton Adassinsky und Elena Yarovaya am Wochenende in der „fabrik“ zu Gast waren. Nach einem Jahr mit zahlreichen Großprojekten sehnte sich Anton Adassinsky, Begründer von Derevo, nach einem Stück, das ohne großen technischen Aufwand auskommt. Eine Geschichte, die nur durch ihre Figuren, ihre Handlung und die Kunst der Schauspieler zu etwas Beeindruckendem wird. Ganz in der Tradition der alten Wandertheater wollten Derevo ihr Märchen von „Harlekin“ erzählen. Und so haben Anton Adassinsky und Elena Yarovaya in der „fabrik“ mit einfachsten Mitteln eine bildgewaltige, herzweitende und herzzerreißende Zauberwelt heraufbeschworen, die man nach gut anderthalb Stunden nur ungern wieder verlassen wollte.

Zwei schmale, hoch aufragende Holzwände, in die zwei Fenster eingelassen sind, genügen Anton Adassinsky und Elena Yarovaya, um die Geschichte vom verliebten Harlekin und seiner Pierretta zu erzählen, die dann doch einen anderen heiratet, weil Harlekins sehnsuchtsvolle Blicke allein nicht überzeugen können. Als es dann zu spät ist, der sonst so zögerliche Harlekin das ganze romantische Repertoire der Liebesbekundungen präsentiert, ist aus der vergöttlichten Pierretta längst eine pragmatische Hausfrau geworden. Mit den überreichten Blumen fegt sie lieber den Bühnenboden. In Harlekins herausgerissenem Herzen sieht sie nur eine knackige Paprikaschote, in die sie herzhaft beißt.

Die Geschichte von Harlekins Liebesmarter durchzieht die zahlreichen, phantasievollen Szenen in „Harlekin“. Am Anfang begrüßt das Publikum in der fast ausverkauften „fabrik“ ein dickwanstiger und zausbärtiger Theaterdirektor, den der Applaus des Publikums nur noch anwidert. Doch zum Glück kommt ein trunkener Bettler daher, der noch etwas Alkohol in seiner Flasche hat. Und so verlieren sich beide in einem alles vergessenden, fast schon verzweifelten Veitstanz.

Ähnlich alles um sich vergessen machend wirkt das faszinierende und infizierende Spiel von Anton Adassinsky und Elena Yarovaya in „Harlekin“. Nur viel angenehmer. Die Bühne bleibt den ganzen Abend spartanisch eingerichtet, fast leer. Die schmalen, hoch ragenden Fensterwände, mal nur ein Karton, dann ein Leierkasten oder ein Bollerwagen voller Gerümpel, aus dem Derevos Zauberwelt entsteht. Und obwohl die Bühne fast leer bleibt, ist da immer dieses Gefühl, etwas zu verpassen. Das liegt an dem facettenreichen Spiel von Anton Adassinsky und Elena Yarovaya. Ob Adassinskys dreister Theaterdirektor oder sein Harlekin, ob Elena Yarovayas Pierretta oder ihr kleines Äffchen, was die beiden mit ein paar wenigen Tanzschritten, Gesten und ihrer Mimik erzählen, sind kleine und große Geschenke an das Publikum.

In einer Szene von „Harlekin“ dreht sich Anton Adassinsky unter der Last eines riesenhaften Uhrzeigers. Die Zeit, die dem nun Herzlosen noch bleibt, scheint ihn zu Boden zu drücken. Trotzdem möchte man ihm zurufen: Dreh ihn langsamer, Harlekin! Dreh den Zeiger langsamer, damit die Zeit mit Anton Adassinsky und Yarovayas Pierretta nicht so schnell verrinnt. Dirk Becker

Dirk Becker

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