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Kultur: Testlauf für den Holocaust Götz Aly stellt neues Buch in der Villa Quandt vor

„Gestern sind wieder die Autos da gewesen und vor acht Tagen auch, sie haben wieder viele geholt“, schreibt ein Patient der schwäbischen Heil- und Pflegeanstalt Stetten im November 1940 an seine Schwester. Verzweifelt bittet er sie, für ihn einzustehen und ihn dringend aus dieser Anstalt zu holen, in der sogenannte Schwachsinnige und Epileptiker untergebracht sind.

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„Gestern sind wieder die Autos da gewesen und vor acht Tagen auch, sie haben wieder viele geholt“, schreibt ein Patient der schwäbischen Heil- und Pflegeanstalt Stetten im November 1940 an seine Schwester. Verzweifelt bittet er sie, für ihn einzustehen und ihn dringend aus dieser Anstalt zu holen, in der sogenannte Schwachsinnige und Epileptiker untergebracht sind. Todesahnung und Angst vor dem nächsten Auftauchen der grauen Busse, mit denen seit Monaten systematisch im Rahmen der „Reichssache Euthanasie“ körperlich und geistig behinderte Menschen von den Pflegestätten in die Vergasungsanstalten deportiert werden, durchzieht diese Zeilen ebenso wie die Hoffnung auf Hilfe. Dass es den Anverwandten möglich gewesen ist, auf Entlassung ihrer Angehörigen aus den Pflegeheimen zu drängen und sie so vor dem sicheren Tod zu bewahren und diese Interventionen meist auch erfolgreich waren, aber auch, wie häufig stattdessen in einer Art Selbstbetrug in den erlösenden „Gnadentod“ des Familienmitglieds eingewilligt wurde, belegt der Historiker Götz Aly in „Die Belasteten“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt, 22,99 Euro).

Götz Alys neues und bisher eindringlichstes Buch, das er am morgigen Donnerstag in der Villa Quandt vorstellen wird, entstand im Verlauf von 32 Jahren und spiegelt Alys intensive Beschäftigung mit dem Thema Euthanasie wider. Gestützt auf zahlreiche Quellen beschreibt er darin detailliert die Vorgeschichte und den Alltag der nach ihrer Behörde in der Berliner Tiergartenstraße 4 benannten, von 1940 bis 1941 dauernden „Aktion T4“ zur „Vernichtung unwerten Lebens“ sowie auch die anschließenden Euthanasiemorde in all seinen grausamen Facetten. Dabei führt Aly den Massenord an den Insassen der psychiatrischen Anstalten weniger auf rassenideologische, sondern eher pragmatische Gründe zurück. Es sei vor allem darum gegangen, „unnütze Esser“ zu beseitigen und zudem Platz für Lazarette zu schaffen, so Aly. Für den 66-Jährigen, der als einer der meistgelesenen und zugleich kontroversesten NS-Forscher gilt, haben die Euthanasiemorde zudem den Charakter eines Testlaufs für den Holocaust. In seinem Buch stellt er dazu die These auf, die NS-Politiker hätten erst aus der stillschweigenden Haltung der Deutschen gegenüber dem Massenmord an den eigenen Volksgenossen die Zuversicht gewonnen, noch größere Verbrechen ohne bedeutenden Widerspruch begehen zu können. Nicht zuletzt deshalb hat Aly sein Buch über die Euthanasie als „Gesellschaftsgeschichte“ untertitelt und versucht, ihr den Schleier der Scham zu nehmen. Obwohl er durchaus ein gewisses Verständnis für die Familienangehörigen der Opfer zeigt, kritisiert er dennoch ihre „verklemmte Diskretion“, mit der sie das verbrecherische Geschehen betrachteten und mit der auch heute noch die Aufarbeitung dieses düsteren NS-Kapitels behandelt wird.

Götz Aly hat sein Buch seiner Tochter Karline gewidmet, die seit 1979 mit einer schweren Hirnschädigung lebt. Diese persönliche Betroffenheit trübt ihm keineswegs den Blick, erklärt jedoch sicher das Engagement, mit dem Aly in seiner wissenschaftlichen Darstellung den Opfern der Euthanasiemorde eine Stimme gibt. Stets nennt er ihre Namen, ihre Geburts- und Sterbedaten, zitiert er immer wieder ihre Briefe, die deutlich machen, dass da Menschen sprechen und nicht „geistlose, tote Hüllen“, wie ihre Mörder sie bezeichneten. Daniel Flügel

Götz Aly stellt „Die Belasteten“ am morgigen Donnerstag um 20 Uhr in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47, vor. Der Eintritt kostet 7, ermäßigt 5 Euro

Daniel Flügel

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