zum Hauptinhalt

Kultur: „Texte müssen klingen“

Antje Wagner und Ronald W. Gruner im Literaturladen

Stand:

Antje Wagner und Ronald W. Gruner im Literaturladen Eine Wendeltreppe führt aus dem Verkaufsraum des Literaturladens hinauf zum Dachboden, wo zwischen Gebälk die Stuhlreihen stehen. Die intime Atmosphäre des kleinen Raumes lässt die Besucher verstummen. Hin und wieder dringen laute Stimmen von der Brandenburger Straße herauf. Es ist die fünfte Lesung, seit Carsten Wist den Literaturladen wiedereröffnet hat. Über zwanzig Leute sind gekommen, um Antje Wagner zu hören, der Raum ist voll. Nicht nur ihren neuen Erzählband „Mottenlicht“ hat Antje Wagner mitgebracht, sondern auch den Kollegen Ronald W. Gruner. Die beiden haben sich im Rahmen ihres Stipendiums auf Schloß Wiepersdorf kennengelernt. „Ronald und ich sind sehr verschieden, deshalb lese ich gerne mit ihm.“ Antje Wagners Prosa erzählt flüssig und leicht, einem Thema sich unterordnend. Die Prosatexte des 1960 geborenen und in Halle lebenden Ronald W. Gruner sind kurz, rhythmisch, fast wie Gedichte: „Texte müssen klingen.“ Sie werfen knappe assoziative Blicke auf Erlebnisse, auf biografische Erfahrungen, auf Gegenstände oder spezielle Situationen. „Lederjacken zerschneiden“, „Flugpionier“ heißen die Texte oder „Weiber an Herden“, „Büchsenbier“. Obwohl Ronald W. Gruner zu den meisten Arbeiten einleitende Worte sagt, erschließt sich der Inhalt oft nicht unmittelbar. Seine fragend hoch gehaltene Stimme fasst mehrere Sätze zusammen und wird dann tief, um den Block aus Sätzen abzuschließen. Ein sich wiederholender Singsang, der Blöcke nebeneinander stellt, die mit Formen und mehrfachen Bedeutungsebenen spielen und sich dem flüssigen Zugang verweigern. Manchmal ist es mehr die Miene des Sprechenden als der Inhalt der Texte, die verrät, was für eine Qualität in der Prosa liegt, eine heitere, eine augenzwinkernd ernste, eine der tieferen Bedeutung. Im Unterschied dazu die Erzählungen von Antje Wagner. Bereits zwei Romane hat die 1974 in Lutherstadt Wittenberg geborene Autorin veröffentlicht. „Mottenlicht“ ist der zweite Erzählband. Mit ihrem Debütroman „Der gläserne Traum“ (1999) war sie schon einmal bei Carsten Wist zu Gast. Antje Wagner hat in Potsdam deutsche und amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften studiert und lebt hier als freie Autorin, die bereits mehrere Stipendien erhielt. Die elf Erzählungen aus „Mottenlicht“ beschäftigen sich mit den Themen Grenzüberschreitung und Gewalt. Sie sind durch die Frage entstanden, wie Gewalt heute beschrieben werden kann, in einer Welt, in der das mediale Zeigen von Gewalt zum Alltag gehört. Die Antwort von Antje Wagner ist, Gewalt gar nicht zu beschreiben, sondern ihre bedrohliche Stimmung, ihr Umfeld und Reaktionen der Umwelt einzufangen. In der Erzählung „Der Mann am Nebentisch“ ist es ein Ehepaar in einem Urlaubshotel am Meer, das sich anders verhält, als die übrigen Paare. Es ist nicht nur viel zu jung für einen Pauschalurlaub, sondern erscheint zudem nie am Strand oder in der Lounge. Das Paarsein wirkt aufgesetzt, keine echte Intimität. Was tun die beiden hier im Hotel, in Zimmer 201? Das fragt sich besonders Ulrich, der dreißigjährige Mediziner, dem die Liebe zu seiner zwölf Jahre älteren Frau mit deren Altern abhanden gekommen ist. Er spioniert dem jungen Paar hinterher und macht die Fotos, die alles beweisen werden. Ein bisschen Spannung, ein bisschen Beziehungsproblematik, abwechslungsreich gelesen. Am Schluss denken wohl alle darüber nach, was genau der Gewaltakt oder die Grenzüberschreitung des Paares war. Ob jemand über Gewalt und Grenzüberschreitung nachdenkt? Die Stille wird schnell durch den Entschluss aufgelöst, noch was trinken zu gehen. Schließlich ist es ein „Heimspiel“, man kennt sich. Dagmar Schnürer Antje Wagner „Mottenlicht“, Kiepenheuer & Witsch 2003. 7,90 € Ronald W. Gruner „Der Geschmack von Waldmeisterlimonade“ (Prosa, 2003) und „Die Sprache der Bäcker“ (Gedichte, 2000) Verlag Janos Stekovics.

Dagmar Schnürer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })