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Kultur: Theater mit Gesicht

Das Glindower Wandertheater „Ton und Kirschen“ im Hof des Kutschstalls

Stand:

Das Glindower Wandertheater „Ton und Kirschen“ im Hof des Kutschstalls Vor fast einem Jahr setzte das Glindower Wandertheater „Ton und Kirschen“ ein zweigeteiltes Projekt ins Leben, verbunden durch den übergreifenden, aber nicht unbedingt verbindenden Titel „Middle of the Moment“. Das Potsdamer Publikum konnte diesen quicken „Oldtimer“ mit Maskenspiel und Live-Musik im Hof des Kutschstalls erleben, Open air und publikumsnah – die 1992 gegründete Bühne ist nach wie vor eine gute und originelle Adresse. Künstlerisch hoher Anspruch (Goldoni, Cervantes, Marlowe, Tschechow, Büchner) ist der international besetzten Truppe Pflicht wie Ehre. Sie versucht, das „Parkett“ nicht über Begrifflichkeiten wie „Volkstheater“ oder gar intellektuell zu erreichen, sondern durch gutes Handwerk und phantasiesattes Spiel, mit allen der Bühne verfügbaren Mitteln. Und mit seinen guten Spielern hat „Ton und Kirschen“ durchaus ein „Gesicht“. Die etwas befremdliche Zusammenstellung des urwüchsigen, von Autor Birago Diop literarisch bearbeiteten Schwanks aus dem islamischen Senegal mit einem, moderne Mittel fast erzwingenden, Stück des russischen Autors Daniil Harms (oder Charms) macht den Zuschauer allerdings zu einem mühsamen Sucher in Sachen Kongruenz, denn das Kürzel „tragikomische Geschichten“ bringt die so unterschiedlichen Handschriften zweier Regisseure und Stile mitnichten in eins. „Die Haxe“ (Bühnenfassung Jean- Claude Carrière) erzählt von gescheiterter Freundschaft in einer traditionellen Dorfgemeinschaft, aber auch vom Hunger: Moussa (Nelson Leon) schuldet Mor Lam (Mohamed El Hassouni) seit langem Geld. Er bekommt es zwar endlich in Form einer Kuh zurück, aber im Ort ist Fleisch rar, Teilen daher Pflicht. So bittet er sich wenigstens die Haxe vom Milchvieh aus. Moussa hingegen packt ihn retour bei der angeblichen Freundesehre: „Was Dein ist, das sei auch Meins“. Mor Lam wird weder den lästigen „Bruder“ los, noch kommt er zum essen. Er stellt sich krank, dann gar tot, bis ihn ein Engel realiter dahin befördert, wo er schon ist, ins Grab. Gespielt wird mit doppeltem Boden in kräftigen Farben auf offener Bühne ganz traditionell. Große Gesten, weite Gänge, wunderbare Komik, worüber das treibende Motiv, Hunger nach stärkendem Fleisch, in Vergessenheit gerät. Trotzdem sehenswert. „Elisaveta Bam“ (1927) erzählt sehr modern von der so realen wie absurden Bedrohung durch eine Staatsmacht. Iwan Iwanowitsch (David Johnston) und Pjotr Nikolajewitsch (Thomas Weppel) wollen Elisaveta (Margarete Biereye) „abholen“, sie wisse schon, warum. Dann aber wechselt die Perspektive, immer wieder verwandelten sich Szenen und Spieler vor den etwa 50 Besuchern in das, was sie soeben nicht waren, sonst aber sind. Das Innere der Häscher kehrt sich nach außen, zwei groteske Figuren, bedauernswerte Seelen im unübersichtlichen Verwirrspiel des Lebens. Als beim Finale alles von vorne beginnt, lässt sich die Ahnungslose willenlos abführen – bedeutungsvoll stürzt die Dekoration zusammen. Eine Inszenierung (Margarete Biereye, David Johnston) von beachtlichem Schauwert bis in die maskierten Nebenfiguren hinein, aber gedanklich unklar und dem leichten Stil der „Haxe“ fremd. Zwei Regisseure für die „Momentaufnahmen des Lebens“ lassen einen bindenden Rahmen fehlen. Gerold Paul

Gerold Paul

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