Kultur: Tiefgründig und überwältigend Staatsorchester Frankfurt
überzeugt im Nikolaisaal
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Musikalische Weitschweifigkeit könne er nur schwer ertragen und alles, was länger als fünf Minuten dauere, bereite ihm seelische Pein. Das meint jedenfalls der russische Komponist Anatoli Ljadow. Also malt er sein effektvolles Orchesterporträt der Hexe „Baba Yaga“ in knapp vier Minuten. Das Schöne daran: In dieser Kürze ist mit Würze klangvisuell alles gesagt. Ein schriller Pfiff von Piccolo, Flöte, Klarinette und Oboe, und schon sausen Besen, Futtertrog und Stampfer herbei, auf denen Baba Yaga und ihre wilden Gesellen durch den Märchenwald jagen. Wie Peitschenhiebe wirken die antreibenden Tuttischläge. Es ächzt und stöhnt, rast und stampft, ein gefundenes „Fressen“ für das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt unter seinem Chefdirigenten Howard Griffiths. Diesen Kurzweiler, witzig und konzentriert musiziert, servierten sie am Samstag beim 2. Sinfoniekonzert im Nikolaisaal als apart gewürzte Vorspeise eines reizvoll gemischten Klangmenüs à la russe.
Als Zwischenmahlzeit reichen sie die nicht weniger vergnügliche „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ für Klavier und Orchester von Sergej Rachmaninow. In dem uvre sind das berühmte Thema der 24. Caprice für Violine solo und die gregorianische Totensequenz „Dies irae“ wirkungsvoll miteinander verknüpft. Mit überschäumendem Temperament und kraftvollem Fingerspitzengefühl entfacht die in der russischen Schwarzmeerstadt Noworossijsk geborene Anna Vinnitskaya ein brillantes Tastenfeuerwerk: hart und klar im Anschlag, rhythmisch pointiert, wieselflink wie Baba Yaga. Abrupte Stimmungsumschwünge zwischen harter Kante und poetischer Versenkung bewältigt sie mühelos. Mit opulentem Lisztschen Fingersatz tollt sie über die Tastatur, angetrieben und unterstützt vom bestens aufgelegten Orchester. Ihre gelenkigen Hände können streicheln und hämmern, geheimnisvoll raunen und verführerisch trillern, flatterhaft in ätherische Höhen entschwinden, in perlenden Kaskaden schwelgen und bei donnernden Läufen nie die Contenance verlieren. Mit zwei Zugaben, einer freudentaumeligen und einer lyrisch verspielten, kündet sie von den Seelen, die in ihrer Brust wohnen.
Als Hauptgang wird schließlich Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 8 c-Moll op. 65 serviert. In epischer Breite ist in ihr das Schlachtenringen um Stalingrad zum Gegenstand seelenaufwühlender Betrachtungen bis hin zur Trauer über die Toten des Krieges geworden. Tiefgründig und emotionsgeladen schildert er im einleitenden Adagio-Tableau die schier ausweglose Situation. Trauergesang (ergreifendes Englischhornsolo!) wechselt mit Schmerzensschreien eines geschundenen Herzens, die sich in ihrer Grelle, vibratolosen Schärfe und extremen Dynamik bis an die Grenze des Hörerträglichen steigern. Durchdringend erklingt auch das Scherzo als grimassierende Groteske. Doch aus dem gigantischen Schlachtenfresko mit einem vorwärtsdrängenden Marsch, einer Sternstunde für die Bläser, keimt zaghaft hoffnungsfrohe Zuversicht. Ist sie von Dauer?
Der fragende, leise verklingende Ausgang lässt die Antwort offen. Das Spiel des Staatsorchesters, der Musiker Gestaltungsintensität und ihr klangbegeisterndes Miteinander lassen sich mit einem Wort beschreiben: Überwältigend! Von Langeweile keine Spur: Die 65 Minuten vergingen wie im Fluge. Peter Buske
Peter Buske
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