Kultur: Tonbilder in fotorealistischer Tiefenschärfe
Der hoch gefeierte 17-jährige Pianist Wen-Yu Shen gab im Nikolaisaal einen Klavierabend
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Der hoch gefeierte 17-jährige Pianist Wen-Yu Shen gab im Nikolaisaal einen Klavierabend Es ist ungewöhnlich, einen Klavierabend mit einer der legendärsten Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven zu beginnen. Doch der junge, als Ausnahmetalent hoch gefeierte Pianist Wen-Yu Shen aus China eröffnet mit der Sonate op. 57 f-moll, seit der Betitelung durch Beethovens Verleger auch „Appassionata“ genannt, sein sehr gut besuchtes Debut-Recital im Foyer des Nikolaisaals. Setzt Wen-Yu Shen bei den Hörern von vorn herein genügend Aufnahmebereitschaft voraus, um gleich mit einem pianistischen Gipfelwerk zu beginnen ? Oder soll die Apassionata damit ein bisschen aus den womöglich leicht nebelumwölkten Gipfelhöhen ihrer langen Rezeptionsgeschichte herab geholt werden ? Denn „das Werk ist elementarer musikalischer Ausdruck der allgewaltigen Naturkräfte im Weltenkosmos und der seelischen Mächte im menschlichen Inneren.“, heißt es in einem älteren Musikführer über die Appassionata. Kann es auch etwas irdischer, sachlicher zugehen, als in diesem dunstigen Ton? Wen-Yu Shen entwirft vom ersten Moment differenzierte Tonbilder in gleichsam fotorealistischer Tiefenschärfe fern von Camouflage und Verklärung. Jedem einzelnen Motiv, jeder Phrase spürt er nach, verleiht ihr eigene Farbnuancen. Dabei stellt mit feinsinniger Attitude die Brüchigkeit, das Fragmentarische und das Fragende der Komposition heraus. Fast unmerklich steigern sich die Variationen des zweiten Satzes, weiten und öffnen sich langsam ins Helle. Doch Wen-Yu Shen unterbricht die scheinbare Idylle nicht grell und unerwartet, sondern schlägt den verminderten Akkord fast sacht an, beiläufig, um auch den letzten Satz bei allem stürmischen Drängen eher verhalten und klangdifferenziert zu spielen. Eine pianistische Bravourleistung, technisch perfekt und von hoher interpretatorischer Inspiration. Ob die folgenden Balladen von Johannes Brahms Nr. 1 und Nr. 2 aus op. 10 heute noch gespielt werden sollen, ist eine offene Frage. Diese herb-trockenen Stücke wirken wie müde Reminiszenzen an inspiriertere Werke der Klavierkunst, ohne viel zu sagen. Da nützt auch die behutsamste Wiedergabe nichts. Die 1942, in der schwersten russischen Kriegszeit entstandene Sonate Nr. 7 Sergej Prokofjews, zeigt den Komponisten mit allen Merkmalen seiner „skulturalen Melodik, Klanghärte, scharf umrissenen Rhythmen“ wie H. H. Stuckenschmidt in seinem wegweisenden Kompendium der Neuen Musik schrieb. Den exorbitanten Schwierigkeiten der Komposition begegnet der erst siebzehnjährige Wen-Yu Shen mit bewundernswürdiger Konzentration, Klarheit und Präzision. Doch zum wahren Triumph sowohl in klanglicher als auch in technischer Hinsicht geraten die Tongedichte des „Gaspard de la nuit“ von Maurice Ravel. Unvergleichlich subtiler und differenzierter als Franz Liszts donnernde, ebenfalls hochvirtuose Don-Giovanni-Opern-Phantasie, verströmen sie ätherische Poesie in flüchtigster Konzentration. Nach diesen entrückten Klangfantasien bringt nur einer wieder ins irdisch gebundene Dasein zurück, der - burleskes Paradox – göttliche Mozart. Mit dem zweiten Satz aus der Sonate F-Dur, KVV 332, ziehen zärtlich-melancholische Klänge auf. Wen-Yu Shen verleiht der B-Dur-Harmonik des Adagios, die konstant von Moll-Klängen eingetrübt und mit zarten Trillern und weichen Terzklängen durchwebt ist, poetischen Schönklang. Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
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