Kultur: Tortenschlacht mit Gefühl
Filmlivekonzert mit Chaplins Kurzfilmen
Stand:
Sicher hätte Charlie Chaplin die Aufführungen seiner Filme mit der musikalischen Begleitung durch das Filmorchester Babelsberg geliebt. Denn Musik und Film bildeten für Chaplin eine Einheit. „Das Medium ähnelt der Musik mehr als anderen Medien. Wie Musik beginnt es immer, wenigstens für mich, nicht mit einer Idee, sondern mit einem Gefühl und aus diesem Gefühl entsteht die Idee“, sagte Chaplin einst. Dem Filmkünstler kommt man erst mit Musik näher, die er ja auch sein Leben lang praktiziert hat. Vielleicht deshalb sind die Potsdamer Filmlivekonzerte der Chaplin-Filme so anhaltend erfolgreich. Auch die „Chaplinade“ mit vier Kurzfilmen aus den Jahren 1916 und 1917 fand als Filmlivekonzert mit dem Filmorchester Babelsberg am Samstag reißenden Anklang im ausverkauften Nikolaisaal.
Der kleine Tramp wie er lebt, liebt und leidet – schon in Chaplins frühen Filmen kann der Zuschauer eine ganze Palette menschlicher Emotionen erleben. Chaplin hatte, anders als sein Konkurrent Buster Keaton stets etwas übrig für melancholische Momente und bekannte sich zu einer, wenn man so will, Kultur des Gefühls. Noch in der flammenden Rede seines Anti-Nazi-Films „Der große Diktator“ rief er, dass „wir zu viel denken und nicht genug fühlen“.
Doch zum Glück gibt es ein Mittel, um der Tragik zu entkommen: das Lachen. Das, bei aller Egozentrik, keiner mit so viel Wärme kultiviert hat wie Charlie Chaplin. In „The Immigrant“ reist er als bettelarmer Einwanderer auf einem Dampfer nach New York. Einem Mädchen, dessen Mutter gerade ausgeraubt wurde, steckt er heimlich sein im Spiel gewonnenes Geld zu. Er rettet ein entführtes Mädchen vor den Zigeunern und eine junge Schöne aus einem brennenden Haus. Ein echter Held, aber ein komischer, kleiner Held und ein Unglücksrabe noch dazu. Die Komik liegt zwischen den heldenhaften Taten und der ärmlichen Außenseiterfigur. Der Underdog als Held – das gab es bisher nicht. Stets waren die Helden dem Drama und der Tragödie zugeordnet.
Erst das Massenmedium Film und Chaplins geniale Erfindung des „kleinen Tramps“ mussten entstehen, um die traditionellen Gattungen zu vermischen, deutlich sichtbar in „Behind the Screen“. In zwei Filmstudios wird geprobt: hier die lumpigen, heruntergekommenen Gestalten der Komödie, dort die nobel gekleideten Figuren der Tragödie. Erst eine heftige Tortenschlacht wirbelt die Grenzen und die Genres durcheinander. Mit dem wohl typischsten Stilelement der Stummfilmkomödie, der Tortenschlacht, ist das Erzählen neu erfunden worden.
Ohne Tortenschlachten, aber dafür mit umso mehr Sentiment kommt „The Vagabond“ daher. Ein melodramatisches Märchen über ein verloren gegangenes Mädchen, seine Rettung und die Rückkehr zur Mutter. Charlie Chaplin erscheint hier als Violinist, was er auch wirklich war. Schon von seinem ersten Gehalt bei der englischen Komikertruppe von Fred Karno hatte er sich eine Geige gekauft.
Die Musik des Komponisten Carl Davis folgt den filmischen Vorgaben auf den Punkt genau und bemüht dafür viele Zitate aus der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Mit wienerischem Schmelz betont der erste Violinist des Filmorchesters Babelsberg die süßlichen Wendungen hintergründig und ironisch. Köstlich kostet die Musik den ungewollten Wettstreit zwischen der groben Blechbläserband und dem sensiblen, einsamem Wandergeiger (Chaplin) aus. Trefflich im wahrsten Sinne geht es bei den Slapstick-Prügeleien zu, die fast immer sekundengenau vom Orchester getroffen werden. Keine leichte Aufgabe, aber dem Filmorchester Babelsberg – in kleiner Besetzung und mit hervorragenden Solisten – unter der souveränen Leitung von Helmut Imig gelang erneut eine fantastische Aufführung, die Chaplin alle Ehre machte. Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: