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Kultur: Töten im Rahmen der Normalität

Zur Sozialpsychologie des Massenmords

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Bei Mord und Totschlag kommen sie alle, raunt jemand durch die dicht besetzten Reihen im Einstein Forum. Und tatsächlich, am Dienstagabend mussten noch Stühle geholt werden, so groß war der Andrang. Doch es ging nicht einfach „nur“ um Mord und Totschlag, der Sozialpsychologe Harald Welzer war gekommen, um eine der Kernfragen des Holocaust, vielleicht die Frage aller Fragen des 20. Jahrhunderts, zu beantworten – nämlich wie es sein kann, dass Menschen, die es kurz zuvor selbst nicht für möglich hielten, zu Massenmördern wurden.

Der Ansatz von Forschungsprofessor Welzer ist so provokativ wie verstörend. Er geht davon aus, dass die Täter normale Menschen waren, die in der Mehrzahl freiwillig handelten. Was den Umgang mit dem Menschheitsverbrechen der Shoa erheblich erschwert, fällt es doch wesentlich einfacher, sich von Verbrechen zu distanzieren, die psychisch disponierte Tätern begangen haben. „Wenn es zutreffend ist, dass es keine Mörder gibt, sondern nur Menschen, die Morde begehen, sind die meisten von uns unter Umständen wahrscheinlich bereit zu töten – es müssen nur die situativen, sozialen und handlungsdynamischen Bedingungen dafür vorliegen“, formulierte Welzer unlängst in einem Aufsatz.

Dass ganz normale Bürger, die vor dem Krieg Handwerker und Kaufleute waren, plötzlich bereit sind, unschuldige Menschen zu ermorden, hat für Welzer in erster Linie auch etwas mit einer Verschiebung des normativen Rahmens zu tun. Von 1933 an habe sich in Deutschland eine spezifische Moralvorstellung des NS-Systems durchgesetzt, die Stück für Stück Verbrechen zuließ, die vorher als Unrecht galten. Die Ausgrenzung der Juden war zum Alltag geworden. Von den Nazis wurde sie moralisch unterfüttert: Man habe die Pflicht, die Juden auszurotten, damit sie die Deutschen nicht umbringen, sagte Himmler in seiner Posener Rede 1943. „Es kommt auf das Weltbild an, dass die Täter bei den Erschießungen im Hinterkopf hatten“, erklärt Welzer.

Und das Töten selbst, die Massenerschießungen an den Gruben? Welzer hat Akten der Gerichtsverfahren ausgewertet. Er nennt Beispiele, die für sich sprechen. Einer der Männer des Reserve-Polizeibataillons 45 sagte, er habe versucht, nur Kinder zu erschießen. Weil zuvor die Mütter erschossen worden waren. Er habe die Kinder umgebracht, um sie vor dem Dasein ohne Mutter zu erlösen. „So legitimierte er seine Taten, er wollte vor dem Staatsanwalt als gut dastehen“, so Welzer. Bezeichnend sei, dass 20 Jahre nach den Taten alle Mitglieder dieses Bataillons, bis auf einen, ungebrochene Persönlichkeiten waren. „Das zeigt, dass sie ihre Taten in ein Konzept der Normalität einordnen konnten“, sagt Welzer.

Ein anderer Schauplatz: Vor einer Massenerschießung von Juden habe der Major des, durch Goldhagen bekannt gewordenen, 101er-Bataillons offenbar sehr emotional zu seiner Truppe gesprochen. Er wisse, dass vor ihnen eine schwere Aufgabe liege. Wer das nicht könne, dürfe heraustreten. Von den 500 Rekruten seien etwa elf herausgetreten. „Warum blieben 489 ohne Zwang und Befehlsnotstand stehen?“, fragt Welzer. Weil der von der Truppe geschätzte Major deutlich gemacht habe, dass er selbst Probleme mit den Erschießungen habe. „Es war naheliegend, dass man ihn nun in dieser schwierigen Sache unterstützte. Welzer hat noch weitere Erklärungen dafür: Weil es einfacher sei, stehen zu bleiben, weil Töten für die meisten eine abstrakte Sache war, weil man die anderen Kameraden nicht im Stich lassen wollte und weil die Sozialpsychologie generell besage, dass Einstellung und Handlung meist völlig verschiedene Dinge sind.

Hinzu komme die Arbeitsteiligkeit der Massenmorde, Welzer nennt es „Tötungsarbeit“. Sie habe dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben, sich als kleines, unwichtiges Rädchen im großen Getriebe von Schuld frei zu machen. Die Schützen schließlich hätten das Morden nicht als Freude, sondern als harte, notwendige Arbeit gesehen. Als es an einem Tag in der Mittagspause Blutwurst gab, beschwerten sie sich. Der Auftrag wurde demnach schon als Zumutung empfunden.

Ein Zuhörer äußerte daraufhin Unverständnis: Wenn die Täter tatsächlich in ihrer Moralvorstellung umgepolt waren, hätte es keiner weiteren Rechtfertigung bedurft. Ein anderer bezweifelte, dass die Taten immer ohne Zwang geschahen. Schließlich musste auch Welzer einräumen, dass es kein eindimensionales Erklärungsschema für den Judenmord gibt.

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