Kultur: Traumhaft und explosiv
Michael Sanderlings Einstand als Chefdirigent bei der Kammerakademie Potsdam
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Michael Sanderlings Einstand als Chefdirigent bei der Kammerakademie Potsdam Lange bevor er zum designierten Chef der Kammerakademie Potsdam avancierte, hatten Potsdams Musikfreunde den exzellenten Cellisten Michael Sanderling bereits in ihr Herz geschlossen. Er hat mit der Brandenburgischen Philharmonie Potsdam gespielt und für unvergessliche Erlebnisse gesorgt. Und auch mit der Kammerakademie ist er bereits erfolgreich aufgetreten. Damals wie heute stimmt die Chemie zwischen beiden. Die Erwartungen an den Dirigenten als nunmehrigem Verantwortlichen für die Musik des 19. Jahrhunderts (und aufwärts) waren beim 2. Sinfoniekonzert der Nikolaisaal-Reihe deshalb besonders hoch. Er enttäuschte keinen. Es glich einem Bekenntnis, sein Inaugurationskonzert am Sonnabend im gut besuchten Musentempel in der Wilhelm-Staab-Straße mit Werken von Hans Werner Henze (geb. 1926) zu beginnen. Einigen Zuhörern mag dabei angst und bange geworden sein – ob der „schrägen“ Klänge, die das Ohr bei der „Sonata per archi“ (Streichersonate) dabei zu verarbeiten hatte. Scharfkantige Akkordblöcke sind mit kantablen Spielfiguren zu sperrigen Gebilden verfugt. Akkurat ist die Kammerakademie bei der Sache und begeistert mit intensivem Ausdruck. Michael Sanderlings präzise Schlagtechnik (nie akademisch gelernt, aber musiklebensnah praktiziert) bringt tonsetzerische Strenge und Expressivität auf den Punkt. Im Variationensatz beweist sich Sanderlings analytisches Gespür, ohne daneben auf Klangsinnlichkeit zu verzichten. Peter Rainers Violinsolo eröffnet den Reigen der 32 kurzweiligen Veränderungen, die sich mal pointiert, sehnsuchtsvoll, erregt und kantabel, dann wieder dramatisch, drohend und bittend offenbaren. Trotz allen Vibratogebrauchs werden sie von den Musikern mit eindrucksvoller Klarheit und tonaler Gradlinigkeit gespielt. Ein dissonanter Schluss – und alle Fragen offen! Nicht so bei Henzes antiromantischer und analytischer Instrumentierung von Richard Wagners „Wesendonk-Liedern“ für Altstimme und Kammerorchester, die Yvonne Wiedstruck mit ihrem breit und sicher strömenden Mezzosopran sozusagen antischwülstig, mitunter aber auch etwas zu distanziert und unterkühlt vorträgt („Der Engel“, „Schmerzen“). Als einstiger Sopranistin steht ihr eine aufblühende Höhe zur Verfügung, mit der sie mühelos umgeht („Stehe still!“). Dagegen lustwandelt sie „Im Treibhaus“ gelegentlich entrückt, während sie vom Orchester fast klangnüchtern begleitet wird. Tief empfunden, aber ohne Seelenbibber kostet sie die Schönheiten der liebeslieblichen „Träume“ aus. Traumhaft. In ihrer „aristokratischen guten Laune“ könne Ludwig van Beethovens 8. Sinfonie F-Dur op. 93 „fast ein Spätwerk Mozarts sein“, verkündet das Programmheft. Wer auf diese Aussage vertraut, sieht (besser: hört) sich verlassen. Nichts davon ist im ersten Satz (Allegro vivace e con brio) zu vernehmen. Nicht aufgedreht, sondern geradezu hysterisch klingt er derb und direkt und überlautstark auf. So also soll „con brio“ klingen?! In der Absicht, Beethovens Methode der ironischen Brechung (von Formen und Traditionen) zu entsprechen, schießt Michael Sanderling allerdings ein wenig übers Ziel hinaus. Nach dieser Überrumpelung mit ihrer kontrastbetonten Sichtweise bezaubert das Allegretto scherzando (das Mälzels Metronom-Erfindung durch tickende Holzbläser ironisiert) durch ein gewisses Maß an graziöser Heiterkeit. Im Trio des „Tempo di Menuetto“ erfreut die geschmeidige Zurückhaltung bei der Klangproduktion. In mehrfachen Anläufen, die Zatopekschen Zwischenspurts beim Langlauf gleichen, stürzt sich Ludwig van B. endlich mit stolzgeschwellter Brust ins Ziel. Der explosiven, überraschend unkonventionellen Lesart fällt begeisterter Beifall zu. Peter Buske
Peter Buske
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