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Kultur: Treffen der Jungen Wilden

Douglas Boyd dirigierte die Kammerakademie Potsdam beim 4. Sinfoniekonzert im Nikolaisaal

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Fällt man denn gleich mit der Tür ins Haus?! Den Überraschungshappen, sonst stets in die zweite Hälfte eines Konzerts der Kammerakademie Potsdam eingebaut, gab es diesmal gleich zu Beginn des von Douglas Boyd geleiteten 4. Sinfoniekonzerts im Nikolaisaal. „Ikarische Klage“ für zehn Streicher nennt sich das avantgardistische Stück aus der Feder von Jörg Widmann (geb. 1973), der an diesem Abend auch noch solistisch auftritt und im Anschluss zu einer Foyer-Begegnung mit dem Moderator Markus Fein zur Verfügung steht.

Ein Baudelairesches Gedicht über den abstürzenden Sonnenhöhenflieger habe ihn zu seiner Komposition inspiriert, verkündet er im Programmheft. Sie beginnt mit Flageoletts von vier Geigen in höchster Lage, die sich wie abgerissenes Grillenzirpen anhören, und mit anschwellenden Klangflächen. Kontrabass- und Cellobrummen auf gemeinsamer tiefer Tonhöhe gesellt sich hinzu.

Es schwirrt wie ein Flugzeuggeschwader bedrohlich heran. Schulterzucken, Ratlosigkeit bei einem Teil des diszipliniert zuhörenden Publikums. Dann wird es leise, dann breitet sich Geräuschhaftes aus, häufen sich dissonanzenreiche und unisono gestrichene Akkorde. Wie aus den Weiten des Weltalls klingt fast unhörbar eine Geigenmelodie (Konzertmeisterin Yuki Kasai) auf. Dem 15-minütigen Opus wird freundlich applaudiert, doch viele Hände bleiben ungerührt.

Vertrautes fürs Ohr folgt sogleich. Zunächst ist es Mozarts Klarinettenkonzert A-Dur KV 622, bei dem sich Notensetzer Jörg Widmann nun als professoraler Instrumentenbeherrscher und Notendeuter des Wiener Klassikers erweisen will. Der Dirigent, immer sprungbereit seines akzentbetonenden Amtes waltend, hat dabei die Bratschen neben die ersten Geigen gesetzt, was für eine besondere, weil bessere Klangmischung sorgen soll.

Straff artikulierend und klangschlank spielt die Kammerakademie auf, enthält sich jeglicher Romantizismen, leider auch einer bezwingenden Legatolinie. Orchestral ist es ein Mozart nicht in seelenwärmenden Puschen, sondern asketischen Römersandalen. Der Solist ist engagiert bei dieser (Ansichts-)Sache, gewinnt sich aus analytischem Blickwinkel von der Tradition abweichende Phrasierungen. Er pflegt einen kernigen, kraftvollen Ton, der jedoch weich im Ansatz ist. Innig, aber nicht zerfließend hört sich das Adagio an, virtuos und fern des knalligen Kehraus das Rondofinale. Die erwartete Zugabe blieb der mit Bravorufen bedachte Solist dem Publikum schuldig.

Abschließend landet auch Beethoven mit seiner 2. Sinfonie D-Dur op. 36 auf dem Seziertisch des sportiven, detailversessenen und adrenalingesättigten Dirigenten Douglas Boyd. In quasi Rambomanier mischt er die vier Sätze auf. Er kennt keine Scheu vor dynamischen Extremen, indem er ein Allegro gnadenlos ins Prestissimo hetzt, dem Larghetto keinen Moment der Ruhe gönnt. Es scheint, als habe der Dirigent die Aufmüpfigkeit eines komponierenden Jungen Wilden von anno 1802 zu seinem Gestaltungsprinzip erhoben.

Die Lust am Kontrast, an aufgesetzter Forsche lässt den Notenanatom rastlos tätig sein. Schicht um Schicht trägt er Muskelmasse ab, legt Nervenstränge frei. Er verwendet Naturtrompeten-Instrumentarium, wenig Vibrato, stutzt den Schwingen ihre Federn. Schließlich liegen alle körperlichen Zutaten säuberlich sortiert auf dem Tisch der Klanganatomie. Doch wo die Seele ihren Sitz hat, blieb dabei leider unerforscht. Peter Buske

Peter Buske

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