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Kultur: Triumph für Chaplin

Modern Times als Film-live-Konzert im Nikolaisaal

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Modern Times als Film-live-Konzert im Nikolaisaal Eine Uhr in Großaufnahme, eine riesige Schafherde, die in ein Gatter getrieben wird, Arbeitermassen, die in die Fabrik strömen. Die Anfangssequenz von Charlie Chaplins „Modern Times“ setzt gleich zu Beginn aggressive filmische Kontrapunkte und erweist sich als meisterhafte Bildmontage. Wenn „die Montage das eigentliche schöpferische Moment des Films ist, kraft dessen aus leblosen Fotografien die lebendige filmische Einheit geschaffen wird“, wie der russische Filmpionier W. I. Pudowkin sagte, so liefern diese Eröffnungsszenen ein prägnantes Exempel dafür. Die Aufführung von „Modern Times“ als Film-live-Konzert mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg im ausverkauften Nikolaisaal geriet zu einem Triumph für Chaplins Kunst. Denn erst, wenn die von Charlie Chaplin komponierte Musik erklingt, vervollständigt sich der Eindruck seiner künstlerischen Intentionen. In „Modern Times“ klingen zu Beginn schräge Akkorde, die von den Blechbläsern wie Paukenschläge gespielt werden. Doch bald folgen, wenn auch kurzzeitig, weiche Streicherwogen. Dass seine Musik die emotionale Dimension der Filme herausstellen sollte, hat Chaplin stets betont. Doch in „Modern Times“ hat die Musik oft eine parodistische Funktion, indem sie in Kontrast zu den Bildern steht und deren Idylle satirisch überzeichnet und zugleich die Gefühle der Charaktere ausdrückt. Wenn nachts in der Bettenabteilung des Kaufhauses süß die Geigen singen, wenn zum Frühstück in der Bruchbude ein Walzer klingt, Harfe und Vogelgezwitscher den Aufenthalt in der Gefängniszelle begleiten, dann bleibt kein Zuschauer unberührt. Auch Stellen von Marschliedern und Hymnen erklingen als musikalische Untermalung bei entsprechenden Szenen, etwa bei der Demonstration der Arbeiter. So verdoppelt die Musik die Bildaussagen, verleiht ihnen emotionelle Tiefe und ironische Brechung gleichermaßen. Die überwiegend schnelle, wechselhafte Musik folgt der abwechslungsreichen Handlung mit flotten Marsch- und Tanzrhythmen. Der komödiantisch, satirische Charakter des Films wird durch Timothy Brocks Orchesterinstrumentierung lebhaft unterstrichen, ohne in Sentimentalität zu verfallen. Unter der Leitung von Timothy Brock, der sich einen Namen als Stummfilmmusikspezialist gemacht hat, brilliert das hochmotivierte Filmorchester Babelsberg. Die Einsätze des großen Aufgebots von Schlagwerk, Bläsern und Streichern gelingen auch bei hohem Tempo punktgenau. Restlos drehen Menschen und Musik im Tanzlokal auf, bis die gebratene Ente am Kronleuchter aufgespießt ist, auch ein überdrehter Höhepunkt der Musik. Doch Charlie Chaplin wäre bloß ein gewöhnlicher Comedy-Kracher, wenn er hier aufhörte. Bei ihm dient die Zwerchfellerschütterung nur als Vorspiel zu seinem ersten Auftritt als Sänger. Kein Wort hat er bisher gesprochen, auch nicht seine Gespielin Paulette Goddard. Nur die Maschinen sprechen in diesem Film – neun Jahre nach der Einführung des Tonfilms – als „Big Brother“ vom Bildschirm herab. Es wird ein Triumph: Charlie singt in einem babylonischen Kauderwelsch ohne Worte und trotzdem wird sein Auftritt ein Riesenerfolg. Wieder einmal hat es der kleine Tramp aus den Slums von London allen gezeigt: „Aufgeben bringt nichts, wir schaffen es schon.“ heißt seine optimistische Schlussbotschaft – natürlich nicht gesprochen, sondern geschrieben im romantischen Schlussbild von Charlie und dem Mädchen, die Hand in Hand auf der Landstraße ins Offene gehen. Babette Kaiserkern

Babette Kaiserkern

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