Kultur: Überraschende Lebenswendungen
Eric-Emmanuel Schmitt las in der Druckerei Rüss
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Schon eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn ist kaum noch ein Platz zu ergattern. Monsieur Schmitts Fangemeinde sitzt am Freitag dicht gedrängt unter den dunklen Fachwerkbalken der Druckerei Rüss und fachsimpelt auch mit dem fremden Banknachbarn über bereits Gelesenes des französischen Menschenfreundes, der die großen Fragen des Lebens in einfühlsamen, bewegenden Geschichten erzählt. Ja, natürlich kennt man die religionsübergreifende Parabel von „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“, ebenso die tieftraurige Hommage an den todkranken und doch so mutigen „Oskar und die Dame in Rosa“. Mit „Odette Toulemonde“ liegen nun acht neue Geschichten druckfrisch auf dem Tisch und der beseelte Meister des detailreichen Fabulierens und der klaren Botschaften stellt sie den Potsdamern höchstpersönlich vor. Mit den tief eingegrabenen Grübchen und den feurig-strahlenden Augen gibt er sich sofort als heiterer, selbstzufriedener und charmanter Zeitgenosse zu erkennen. Er wirkt wie ein Weinbauer, der die Reben des Lebens zu pflücken versteht.
Neben ihm hat Tobias Eisermann, Übersetzer aus München, Platz genommen. Mit seinem feingeschnittenen Gesicht und der perfekten Nonchalance wirkt er fast mehr als französischer Schöngeist als der Franzose selbst. Hausherr Christian Rüss erinnert zur Begrüßung bei dieser Veranstaltung des Brandenburgischen Literaturbüros daran, dass sich nur 500 Meter entfernt vor gut 250 Jahren ebenfalls zwei Herren trafen und auf Französisch über Gott und die Welt parlierten. Deutsch sei dem deutschen König zu profan gewesen. „Beide waren Denker, aber auch Zyniker. Mit Eric Emmanuel Schmitt sitzt wieder ein Denker hier, aber bestimmt kein Zyniker.“ In Schmitts Geschichten präsentiere sich das Leben nicht als aufgeblühter Strauß, sondern als ein Meer von Knospen. Und natürlich war man gespannt, diese sprießen zu sehen, ihren ersten Geruch einzuatmen.
Der Autor stellte Figuren vor, die schon alles über das Leben zu wissen meinen: „Doch das Leben ist reicher, als diese Frauen glauben. Es birgt Geheimnisse. Und diese zeigen sich meist dann, wenn man sie am wenigsten erwartet.“ So wie bei der pedantischen Helene, der ewig Unzufriedenen, die auf den steten Optimisten Antoine trifft, der sie mit seinen neunzig Kilo genussbereiter Körperlichkeit anders sehen und fühlen lehrt. Doch das zeigt sich erst ganz zum Schluss. Eric-Emmanuel Schmitt versinkt beim Lesen geradezu in seinen Texten: Er schaut zum Publikum auf und lässt doch die Augen geschlossen. Seine Sprache fließt wie Musik, watteweich, auch für die Französisch-Unkundigen ein Erlebnis. Die von Tobias Eisermann auf Deutsch gelesenen Passagen verfehlen ihre Wirkung ebenfalls nicht: zeigen sich heiter, erotisch und überraschend – mitunter auch etwas weitschweifig. Es seien Texte über die Gnade, sagt Schmitt über seine Frauengeschichten, die er schrieb, als er das erste Mal für seinen Film „Odette“ Regie führte. Im Schneideraum überfiel ihn das Bedürfnis, ein bisschen allein zu sein. Er griff zum Stift und scharte diese Frauen um sich, mit denen er geradezu eine Ode an den Optimismus anstimmt. „Der Tag ist tiefer, als der Tag es sich selber vorstellt“, zitiert er Nietzsche. Und das werden auch seine Figuren spüren, die sich am Ende alle wandeln. Wie Odette, die die Liebe entdeckt und sich so leicht fühlt, dass sie losfliegen möchte. Schmitt hat keine Angst vor Pathos und Märchenhaftem, auch nicht vor Schwarz-Weiß gemalten Klischees. Er möchte das Gute heraufbeschwören und versucht dies etwas pastoral, was nicht jedem liegen mag.
Seine letzte Geschichte in dem Buch beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie erzählt von einem Frauenlager in Sibirien. Ständig sind die Strafgefangenen in Gedanken zu Hause bei ihren Kindern. Nur zu gerne würden sie ihnen eine Nachricht zukommen lassen. Wenn sie ihre Zigarettenration erhalten, nehmen sie den Tabak heraus und behalten das Papier. Dann kleben sie Papier an Papier und erhalten auf diese Weise einen richtigen Briefbogen. Als schließlich eine neue Politische ins Lager kommt und einen Bleistift hinein schmuggelt, sehen sie sich am Ziel. Endlich könnten sie schreiben: Aber wie kann man das Vermächtnis eines Lebens auf nur drei Bögen Papier festhalten? „Ich frage Sie, was würden Sie schreiben?“ Mit dieser Frage entlässt Eric Emmanuel Schmitt sein Publikum, das schnellstens zum Buchstand eilt, um das Geheimnis der wahren Geschichte zu erfahren.
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